Das Experiment
gefunden. Völlig alleingelassen, hatte sie sich in den Gedanken hineingesteigert, eine schreckliche Sünde begangen zu haben. Wie sonst sollte man erklären, daß sie ein solch dämonisches Geschöpf zur Welt gebracht hatte? Vielleicht hatte sie sogar geglaubt, ihr Schicksal verdient zu haben.
Am Storrow Drive geriet Kim in einen Stau und kam nurnoch zentimeterweise voran. Es war immer noch ziemlich heiß, und im Wagen eingeschlossen wuchs Kims Beklemmung.
Schließlich hatte sie die Verkehrsampel am Leverett Circle und damit auch den Stau hinter sich gebracht. Befreit von den Banden der Stadt, fuhr sie auf der Interstate 93 nach Norden. Mit dieser Freiheit stellte sich eine neue Erkenntnis, der Hinweis auf eine bildliche Freiheit ein. Kim wußte plötzlich, welche Botschaft Elizabeth ihr hatte übermitteln wollen: daß Kim an sich selbst glauben sollte. Sie sollte nicht zulassen, daß andere Menschen ihr Selbstvertrauen zerstörten. Sie sollte nicht zulassen, daß autoritäre Gestalten ihr Leben bestimmten. Elizabeth hatte in dem Punkt keine Chance gehabt, wohl aber Kim hier und heute.
Kims Gedanken arbeiteten fieberhaft. Sie erinnerte sich an die endlosen Stunden, die sie mit Alice McMurray verbracht hatte, um über ihr zu gering entwickeltes Selbstwertgefühl zu sprechen. Sie erinnerte sich an die Theorien, die Alice als Erklärung angeführt hatte: eine Kombination aus der emotionalen Distanziertheit ihres Vaters, ihren vergeblichen Versuchen, es ihm recht zu machen, und der Passivität ihrer Mutter gegenüber den zahlreichen Affären ihres Vaters. Plötzlich kam ihr das alles trivial und belanglos vor. Jene Diskussionen hatten sie nie so berührt wie jetzt der Schock über Elizabeths Martyrium.
Kim schien auf einmal alles klar. Ob ihr unterentwickeltes Selbstwertgefühl nun auf der speziellen Situation in ihrer Familie, ihrer eigenen Wesensart oder der Kombination aus beidem beruhte, war ohne jeden Belang. Kim hatte versäumt, sich ihr Leben nach ihren eigenen Interessen und Fähigkeiten einzurichten.
Sie mußte plötzlich bremsen. Verärgert und überrascht stellte sie fest, daß auch auf der normalerweise zügig zu fahrenden Fernstraße ein Stau entstanden war. Wieder kam sie nur schrittweise voran, und der Wagen heizte sich in der sommerlichen Hitze schnell auf. Im Westen bildeten sich schon mächtige Gewitterwolken.
Während sie so langsam vorrückte, reifte in Kim ein Entschluß. Sie mußte ihr Leben ändern. Zuerst hatte sie zugelassen, daß ihr Vater sie beherrschte, obwohl zwischen ihnen praktisch keine Beziehung bestand. Und jetzt hatte sie sich Edward in dergleichen Weise untergeordnet. Edward lebte mit ihr zusammen, war aber praktisch nie für sie da. In Wirklichkeit nutzte er sie nur aus.
Als der Stau sich aufgelöst hatte, gelobte sie sich, diesem Zustand ein Ende zu machen. Sie würde sofort mit Edward sprechen, wenn sie zu Hause war.
Da sie wußte, daß sie Auseinandersetzungen gern aus dem Weg ging, machte Kim sich klar, daß es äußerst wichtig war, so bald wie möglich mit Edward zu sprechen, zumal es jetzt Grund zu der Annahme gab, daß Ultra teratogen war und teratogene Präparate auch Krebs verursachen konnten.
Als Kim zu Hause ankam, war es kurz vor neunzehn Uhr. Wegen der sich im Westen auftürmenden Gewitterwolken war es wesentlich dunkler als sonst um diese Zeit.
Kim bemerkte sofort die veränderte Stimmung im Labor. Sie war sicher, daß David und Gloria und vielleicht auch Eleanor ihre Ankunft bemerkt hatten, aber niemand begrüßte sie. Tatsächlich wandten sie sich sogar ab und ignorierten sie geradezu. Von dem üblichen Gelächter keine Spur, die Wissenschaftler unterhielten sich nicht einmal miteinander. Spannung lag in der Luft.
Sie fand Edward in einer dunklen Ecke an seinem Computer. Das grüne, phosphoreszierende Licht des Bildschirms hüllte sein Gesicht in ein gespenstisches Licht.
Kim blieb einen Augenblick neben ihm stehen. Sie wollte ihn nicht unterbrechen. Während sie zusah, wie seine Finger über die Tastatur huschten, registrierte sie zwischen den einzelnen Anschlägen ein leichtes Zittern. Auch atmete er deutlich schneller als sie.
Einige Minuten schleppten sich hin. Edward ignorierte sie völlig.
»Bitte, Edward«, sagte Kim schließlich mit bebender Stimme, »ich muß mit dir reden.«
»Später«, sagte Edward, ohne sie anzusehen.
»Es ist wichtig, daß ich jetzt mit dir rede«, sagte Kim zögernd.
Edward versetzte Kim einen Schock, indem er
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