Das Experiment
Feuer war praktisch meine Rettung«, meinte Kim. »Vorher war das eigentlich Schreckliche. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn man Menschen, die man kennt, in einem solchen Zustand erlebt. Aber ich habe daraus etwas Wichtiges gelernt: Wenn man solche Präparate nimmt, ob es nun Steroide sind oder psychotrope Präparate – es ist jedesmal ein Pakt mit dem Teufel.«
»Die Medizin weiß das seit Jahren«, erklärte Kinnard. »Ein Risiko besteht immer, selbst bei Antibiotika.«
»Ich hoffe, daß die Menschen sich daran erinnern, wenn sie Präparate gegen sogenannte Persönlichkeitsmängel, wie zum Beispiel Schüchternheit, schlucken«, sagte Kim. »Und Psychopharmaka sind im Kommen; die Forschungsarbeiten sind nicht aufzuhalten.«
»Das Problem ist eben, daß wir der Ansicht sind, daß es für alles und jedes eine Pille gibt«, meinte Kinnard.
Sie standen noch eine Weile stumm da und starrten auf die Ruine. Als Kinnard schließlich vorschlug weiterzugehen, nickte Kim; sie gingen zum Wagen zurück und fuhren zum Labor.
Kim schloß auf. Sie gingen durch den Empfangsbereich, und Kinnard staunte. Alles war leer.
»Wo ist denn alles hingekommen?« fragte er. »Ich dachte, dies sei ein Labor.«
»Das war es auch«, nickte Kim. »Ich habe Stanton gesagt, daß alles sofort weggeschafft werden muß, sonst würde ich es einer wohltätigen Institution stiften.«
Kinnard tat so, als würde er mit einem imaginären Basketball dribbeln und ihn schließlich werfen. Seine Schritte hallten im Saal. »Man könnte immer noch eine Sporthalle daraus machen«, sagte er.
»Ich glaube, mir ist ein Atelier lieber«, sagte Kim.
»Ist das dein Ernst?« wollte Kinnard wissen.
»Ich glaube schon.«
Sie verließen das Labor und fuhren zum Cottage. Kinnard ging darin herum und sah sich alles genau an.
»Glaubst du, daß du je wieder hier wohnen möchtest?« fragte er.
»Ich glaube schon. Irgendwann einmal. Und du? Glaubst du, du könntest je an einem solchen Ort leben?«
»Sicher«, nickte Kinnard. »Man hat mir im Salem Hospital eine Stellung angeboten, die ich ernsthaft in Betracht ziehe. Hier zu wohnen wäre ideal. Das einzig Unangenehme ist, daß es ein wenig einsam sein könnte.«
Kim blickte Kinnard an, der provozierend die Augenbrauen in die Höhe gezogen hatte.
»Soll das ein Antrag sein?« fragte Kim.
»Das könnte es«, meinte Kinnard ausweichend.
Kim überlegte einen Augenblick. »Vielleicht sollten wir uns nach der Skisaison darüber unterhalten.«
Kinnard schmunzelte. »Du hast dir eine ganz andere Art von Humor zugelegt, die gefällt mir«, sagte er. »Du kannst jetzt über Dinge Witze machen, von denen ich weiß, daß sie dir wichtig sind. Du hast dich wirklich verändert.«
»Das hoffe ich«, sagte sie. »Das war schon lange fällig.« Sie deutete auf Elizabeths Portrait. »Ich habe meiner Vorfahrin dafür zu danken, daß sie mich die Notwendigkeit hat erkennen lassen und mir den nötigen Mut gegeben hat. Es ist nicht leicht, aus einem alten Schema herauszukommen. Ich hoffe nur, daß ich es schaffe, mein neues Ich zu behalten, und ich hoffe, daß du damit leben kannst.«
»Bis jetzt mag ich es sehr«, sagte er. »Du bist für mich viel verständlicher geworden, und ich muß nicht mehr dauernd rätseln, was du gerade empfindest.«
»Ich bin erstaunt, aber zugleich auch dankbar, daß sich aus einer so schrecklichen Geschichte doch noch etwas Gutes entwickelt hat«, sagte sie. »Die eigentliche Ironie für mich ist, daß ich endlich den Mut aufgebracht habe, meinem Vater zu sagen, wie ich über ihn denke.«
»Wo liegt da die Ironie?« wollte er wissen. »Ich würde sagen, das paßt durchaus zu deiner neuen Fähigkeit, das, was dich bewegt, auch anderen mitzuteilen.«
»Nein, die Ironie liegt nicht darin, daß ich es getan habe«, sagte sie. »Ich meine vielmehr das Ergebnis. Eine Woche nach dem Gespräch hat er mich angerufen, und es sieht ganz so aus, als könnten wir jetzt eine neue, positivere Beziehung aufbauen.«
»Das ist ja herrlich«, sagte Kinnard. »Ganz wie bei uns.«
»Mhm«, nickte Kim. »Ganz wie bei uns.«
Sie streckte sich, legte ihren gesunden Arm um Kinnards Hals und zog ihn zu sich heran. Er drückte sie mit der gleichen Begeisterung an sich.
Freitag, 19. Mai 1995
Kim blieb stehen und blickte an der Fassade des neu errichteten Ziegelbaus empor. Über der Tür war eine lange weiße Marmortafel, auf der in großen Lettern OMNI PHARMACEUTICAL eingraviert war. In
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