Das Experiment
Salem betraf, aktueller denn je.
Kim brannte darauf, die Fortschritte an ihrem Cottage zu sehen; aber noch mehr drängte es sie zu erfahren, warum ihr Vater angerufen hatte. Da sie ihn noch zu erwischen hoffte, bevor er in sein Bostoner Büro aufbrach, machte sie einen Umweg über Marblehead.
Sie betrat das Haus und ging direkt in die Küche. Wie erwartet saß ihr Vater bei einer Tasse Kaffee am Tisch und hatte sich in seine Zeitung vertieft. John Stewart war ein großer stämmiger Mann, der als Student der Harvard University wie ein richtiger Athlet ausgesehen haben soll. Früher hatte er auch einen ebenso dunklen und wilden Haarschopf gehabt wie Kim. Doch im Laufe der Jahre war John ergraut, was ihm ausgesprochen gut stand und ihm ein typisch väterliches Erscheinungsbild verlieh.
»Guten Morgen, Kimmy«, sagte er, ohne von seiner Zeitung aufzusehen.
Kim schaltete die Espressomaschine ein und schäumte Milch für einen Cappuccino auf.
»Ist mit deinem Auto alles in Ordnung?« fragte John, während er laut mit der Zeitung raschelte. »Ich hoffe, du hältst dich an meinen Rat und läßt es regelmäßig warten.«
Kim gab keine Antwort. Sie war es gewohnt, daß ihr Vater sie wie ein kleines Mädchen behandelte. Doch ein bißchen ärgerte sie sich trotzdem. Ständig wollte er ihr vorschreiben, wie sie Ordnung in ihr Leben zu bringen hatte. Doch je älter sie wurde, desto sicherer glaubte sie, auf seine Empfehlungen verzichten zu können: Schließlich war das Leben, das ihr Vater führte, alles andere als vorbildlich; das galt insbesondere für seine Ehe.
»Ich habe gehört, daß du gestern abend bei mir angerufen hast«, begann Kim, während sie auf einem Stuhl neben dem Erkerfenster Platz nahm; von hier aus hatte sie einen herrlichen Blick über das Meer.
John sah von seiner Zeitung auf.
»Ja, das habe ich«, bestätigte er. »Deine Mutter hat mir erzählt, daß du dich neuerdings für Elizabeth Steward interessierst und viele Fragen über sie gestellt hast. Das hat mich ziemlich überrascht. Ich wollte dich fragen, warum du deine Mutter mit dieser Fragerei so aufregen mußtest.«
»Ich habe nicht vorgehabt, Mutter aufzuregen«, entgegnete Kim. »Ich wollte einfach nur ein paar grundlegende Fakten über Elizabeth wissen. Zum Beispiel interessiert mich, ob man sie wirklich wegen Hexerei gehängt hat oder ob das nur ein Gerücht ist.«
»Sie ist tatsächlich gehängt worden«, sagte John. »Das weiß ich absolut sicher. Und ich weiß auch, daß die Familie Stewart alles daran gesetzt hat, die ganze Geschichte zu vertuschen. Deshalb solltest du die Sache lieber auf sich beruhen lassen und nicht weiter nachbohren.«
»Aber wieso nicht?« fragte Kim. »Warum in aller Welt so viel Geheimnistuerei um eine Geschichte, die mittlerweile dreihundert Jahre zurückliegt.«
»Ob du es verstehst oder nicht, ist ganz egal«, erwiderte John.
»Es war damals eine Schande für die Familie, und daran hat sich bis heute nichts geändert.«
»Willst du mir etwa weismachen, daß du es persönlich als eine Schande empfindest, daß man Elizabeth Stewart vor dreihundert Jahren gehängt hat?« fragte Kim ungläubig.
»Nein, ich nicht«, räumte John ein. »Aber deine Mutter schämt sich deswegen. Und wenn sie nichts von der Geschichte hören will, dann solltest du das akzeptieren und dich nicht darüber lustig machen. Schließlich hat sie es schon schwer genug.«
Kim biß sich auf die Zunge. In Anbetracht der gegebenen Umstände kostete es sie einige Mühe, keine böse Bemerkung fallenzulassen. Statt dessen sagte sie, daß sie sich nicht nur für Elizabeths Schicksal interessiere, sondern sich ihrer Vorfahrin inzwischen sogar sehr verbunden fühle.
»Wie, in aller Welt, kommt denn das?« fragte John gereizt.
»Zum einen, weil ich ein Portrait von ihr gefunden habe«, erklärte Kim. »Jemand muß es im hintersten Winkel von Großvaters Weinkeller versteckt haben. Als ich das Bild in Händen hielt, ist mir zum ersten Mal klargeworden, daß sie eine lebendige Frau gewesen ist. Sie hatte sogar die gleichen Augen wie ich. Was immer sie auch getan hat, ein solches Schicksal hatte sie mit Sicherheit nicht verdient. Da kann man doch gar nicht anders, als Sympathie für sie zu empfinden.«
»Ich wußte, daß das Portrait da unten steht«, sagte John. »Aber was hattest du überhaupt in dem Weinkeller zu suchen?«
»Nichts Besonderes«, erwiderte Kim. »Ich habe mich einfach mal umgesehen. Und weil ich in letzter Zeit einiges
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