Das Falsche in mir
›Jensen‹?«
»Ja, eine Parallelstraße vom Kaiserdamm. Der Besitzer von dem Imbiss heißt Vassilios Sophronia. Sagt dir der Name etwas?«
»Nein.«
»Er ist auf dem Weg ins Präsidium. Wir vernehmen ihn jetzt. Willst du schnell gesund werden und kommen?«
»Ich muss vorher etwas klären. Ich rufe dich zurück.«
Sina legt auf und geht weiter, mit hochgezogenen Schultern, die Hände in den Taschen ihrer Daunenjacke, weiterhin die Fassaden musternd, bis sie das Haus gefunden hat, einen roten vierstöckigen Klinkerbau mit weißen Sprossenfenstern.
Sie sieht auf das Klingelschild, findet den Namen Steingräber. Jetzt erinnert sie sich auch wieder, dass die Familie im zweiten Stock wohnt. Sie läutet. Der Wind weht jetzt von rechts, auf ihrer rechten Wange landen spitze, scharfe Schneeflocken. Es scheint niemand zu Hause zu sein, sie läutet noch einmal, diesmal länger, wartet eine Ewigkeit und dann ertönt endlich der Türsummer.
»Rastegar, Kriminalpolizei.«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
»Entschuldigen Sie, natürlich. Es ist so, ich müsste noch einmal mit Ihrer Tochter sprechen.«
Die Frau an der Tür starrt sie an. Sie trägt Hausschuhe, darüber Jogginghosen und eine Fleecejacke. Drinnen dröhnt ein Fernseher.
»Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Halb elf. Es tut mir leid, Sie so spät zu stören, aber es ist wichtig.«
»Sie waren doch schon hier. Mieke hat alles ausgesagt, was sie weiß.«
»Mieke war sehr kooperativ. Es haben sich neue Entwicklungen ergeben. Kann ich bitte mit ihr sprechen?«
»Jetzt? Hat das nicht Zeit …«
»Leider nicht.«
Ich sitze auf der Bank der Straßenbahnhaltestelle gegenüber vom Haus Silvia Johanssons. Das verglaste Häuschen kann den Wind nicht abhalten, den Wind, der immer stärker wird, böig an- und abschwillt und noch mehr Schnee mit sich bringt.Sicher hat es seit Jahren in Leyden nicht mehr so viel geschneit, wahrscheinlich bricht das Wetter schon seit Wochen alle Rekorde; es wäre schön gewesen, wenn es sich dafür einen anderen Zeitpunkt ausgesucht hätte.
Aber immerhin führt das dazu, dass ich hier allein sitze, ohne lästige potenzielle Beobachter meines Sinnens und Treibens.
Niemand, der nicht völlig verrückt ist, geht heute Abend freiwillig auf die Straße. Auch nicht Silvia Johansson. Wenn sie es aber doch tun sollte, gibt es einen sehr wichtigen Grund. Ich schaue hoch in den dritten Stock. Die Fenster sind erleuchtet, allerdings eher schwach, und ich sehe in dem mittleren Zimmer das bläuliche Flackern eines TV -Geräts. Ich überlege mir, was heute Abend laufen könnte – plötzlich erinnere ich mich an Birgit, die sich an diesem Abend immer zwei ganz bestimmte Serien anschaut. Frauenserien. Eine spielt, wenn ich mich nicht irre, in einem Krankenhaus in Seattle, die andere in einer Privatklinik in Hollywood.
Beide Serien haben etwas miteinander zu tun, Birgit hat mir das einmal erklärt, aber ich habe nicht richtig zugehört. Ich sehe selten fern, schon gar nicht fiktionale Stoffe, ich brauche die Anregung durch die Fantasie anderer nicht; gern würde ich mich in ein anderes Leben mit vergleichsweise läppischen Problemen einfühlen, das ist bestimmt zur Abwechslung sehr entspannend, aber es fällt mir so schwer, meine Existenz einigermaßen im Griff zu behalten, dass ich mich mit anderen Menschen nicht befassen mag, egal, ob es sie wirklich gibt oder ob sie nur Kopfgeburten eines Drehbuchautors sind.
Jemand setzt sich neben mich, ich beachte ihn nicht, merke aber, dass mich seine pure Anwesenheit nervös macht. Ich sehe auf die Uhr; die Straßenbahn müsste in fünf Minuten kommen, dann bin ich ihn los. Ich würde am liebsten aufstehen, mich bewegen, ihn bei dieser Gelegenheit unauffällig mustern, obwohl an ihm oder ihr bestimmt nichts Besonderesist – einfach nur jemand, der auf ein öffentliches Verkehrsmittel wartet.
»Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht die Uhrzeit?«
Eine höfliche junge männliche Stimme.
»Natürlich«, sage ich und schaue auf meine Armbanduhr, ein Weihnachtsgeschenk von Birgit. »Es ist fünf nach halb elf.«
Es kommt keine Antwort, und das zwingt mich, zu ihm herüberzusehen. Weite Jeans und Daunenjacke mit Fellkapuze, also nicht billig. Die Kapuze hat er sich über den Kopf gezogen, sodass ich sein Gesicht nicht sehen kann. Nur eins ist sicher: Er ist jung und männlich.
Wieder höre ich seine Stimme.
»Kalt, nicht wahr?«
»Ja«, sage ich, »allerdings«, während sich mir die Nackenhaare
Weitere Kostenlose Bücher