Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
Vom Netzwerk:
Beispiel, sie blicken einander an, nicken sich zu und gehen zur Tagesordnung über . Mich machte das tatsächlich verrückt: zu sehen, wie die beiden zu einer Partie Billard abschoben, während ich allein vor einem Glas Satzenbrau sitzen blieb.
    Aber wir verbrachten einige nette Abende, wir drei, Abende, an denen Liam und ich etwas taten, womit wir in jenem ersten Sommer in London begonnen hatten, nämlich Geschichten über unsere Familie zu erzählen, die sich wie erfunden anhörten. Wir dachten uns eine Doppelnummer über die Priesterweihe von Ernest aus, über seine entsetzlich gelben Fußsohlen, als er hingestreckt vor dem Altar lag, und über den Anblick unserer Mutter, die, als der ganze Zauber vorbei war, zu ihm hinüberwankte, um ihn in seine Priestergewänder zu kleiden, und später dann, bei einer Art Hochzeitsempfang, wie die beiden, mein Bruder und meine Mutter, die Torte anschnitten und sich nach getaner Arbeit küssten.
    »Ich glaub’s einfach nicht«, sagte Michael Weiss. »Eure Mutter! Ich glaub’s einfach nicht!«, und dann konnte es sein, dass er anfing, etwas über seine Bar Mizwa daherzuplappern, was wir geflissentlich überhörten.
    Einige Dinge jedoch, die uns an unserer Familie amüsierten, fand er ganz und gar nicht lustig. Mein älterer kleiner Bruder Stevie – der im Alter von zwei Jahren gestorben war -, »das war sie«, sagte Liam. »Sie hat ihm ein Kissen ins Gesicht gedrückt«, und wir lachten uns kringelig. »Na, komm schon, die war doch die ganze Zeit schwanger. Die ganze Zeit.«
    »Würdest du doch auch machen.«
    Es dauerte nicht lange, bis Michael unser Zuhause sehen wollte. Ich wusste nicht, wie ich ihm erklären sollte, dass es niemanden interessierte, ob er vorbeikam oder nicht, dass ihn aber jeder ein ganzes Jahr lang auslachen würde, falls er auftauchte. Schließlich, es war am Abend des Kostümballs an der Uni, klingelte er, ein sehr amerikanisches Ansteckbukett am Revers, an der Tür und kam ins Haus geschritten wie Cary Grant, durch die Diele und den Wohnzimmeranbau und dann weiter in den Küchenanbau, und mein Vater sprang von seinem Stuhl auf, um dem Jungen die Hand zu schütteln, und meine Mutter sagte: »Ach, hallo«, wie sie es zu einem Außerirdischen, der sich auf ihren Linoleumfußboden hinunterbeamt, sagen würde, es vielleicht sagen wird, oder zu einem Junkie mit einem Messer, oder wie sie es auf ihrem Totenbett zur Krankenschwester sagen wird oder zum Lichttunnel, der sich vor ihr auftut: »Ach, hallo.«
    »Michael Weiss, Sir«, sagte Michael Weiss und streckte meinem Vater eine freimütige und männliche Hand entgegen. Mein Vater unterdrückte, wie man zu seiner Ehre sagen muss, das Bedürfnis, sich danach zu erkundigen, ob dies etwa ein jüdischer Name sei, obwohl er mich später danach fragte.
    »Weiss, ist das nicht ein jüdischer Name?«, und dabei beteuerte er, gar kein Antisemit sein zu können, weil er keinen einzigen verdammten Juden kenne.
    »Na, jetzt kennst du einen.«
    All dies, bevor ich damit anfing, die ganze Nacht auszubleiben, und bevor die Streitereien einsetzten. Bestimmt wundern Sie sich, woher er die Kraft dafür nahm. Mein Vater hatte ein hitziges Temperament, aber bei seinen Töchtern geriet er nur selten in Wut. Sehr viel häufiger allerdings bei seinen Söhnen, aber auch nur, wenn sie ihn provozierten. Natürlich taten sie das die ganze Zeit, doch was seine Töchter betraf, so war er bereit, jedes späte Nachhausekommen zu übersehen, solange man ihn nicht um Geld für ein Taxi anging. Man durfte sturzbesoffen heimkommen, solange man sich an ihm vorbeistahl und sofort die Treppe hinaufeilte. Er überhörte es, wenn man sich auf der Toilette übergab, solange man hinterher sauber machte. Aber wenn er Sie um eine Zigarette bittet, und Sie ziehen wie ein ungehöriges Schulmädchen eine Schachtel Kondome aus der Tasche, dann muss er einfach immer wieder in die Luft gehen, wie der Geysir Old Faithful, bis Sie sich eine andere Unterkunft gesucht haben.
    Abgesehen davon waren die Dinger illegal. Jeder hatte sie. Ob wir sie nun brauchten oder nicht.
    Es gab nichts, was Daddy nicht sagte. Er hatte kein Gespür für Distanz. Es war fast, als führe er Selbstgespräche. Ich hab in ganz Dublin rumgehurt . Ich war ein Gebrauchtartikel . Ich hab’ne Kloake aus mir gemach t – im Ernst! -, obwohl ich glaube, eigentlich wollte er damit nur sagen: Ich tat nicht, was mir gesagt wurde .
    Das Geschrei begann zwei oder drei Monate vor meiner

Weitere Kostenlose Bücher