Das Feenorakel
Julen später ein zweites Mal ins Sanitätszelt eingedrungen. Dort hatte er einen Helfer vorgefunden und ihn um einen guten Schluck seines warmen Blutes erleichtert, als Alvas Cellospiel plötzlich erklungen war.
Julen trank einen weiteren Schluck aus seiner Flasche. Geschwächt fühlte er sich nicht, dennoch hätte er im Moment ein ganzes Fass mit Blut leeren können, und etwas Ähnliches plante er auch, sobald Alva auf der Bühne stand. Dort konnte er sie sehen und sich gleichzeitig an einem der Zuschauer laben. Den geeigneten Platz dafür hatte er bereits gefunden.
Nun allerdings musste Julen tun, wozu Erik nicht in der Lage zu sein schien: Das Zelt bewachen. Es war unvermeidbar, dass er dabei hörte, was im Inneren gesprochen wurde.
«Alva, kann ich mit dir reden?» Chris war kurz nach ihr ins Zelt gegangen, ohne ihn zu bemerken.
«Jetzt nicht!», Alva klang unwirsch. Sie war offenbar immer noch wütend darüber, dass ihre Freundin sie hintergangen hatte, was wenig erfreulich für Julen war, denn er dachte an seine eigenen Geheimnisse, die er ihr irgendwann einmal würde anvertrauen müssen, wenn ihm an einer gemeinsamen Zukunft gelegen war. Und daran bestand für ihn inzwischen kein Zweifel mehr. Sie waren füreinander bestimmt.
Chris ließ sich nicht abweisen. Er konnte sich bestens vorstellen, wie Alva auf dem mit Holzplanken ausgelegten Boden von einer Ecke des Zeltes in die andere lief und Chris’ Stimme nach zu urteilen, blieb sie ihr dabei auf den Fersen, um immer wieder zu beteuern, dass sie kein romantisches Interesse für Julen hegte.
Alva war jetzt stehen geblieben. «Aber er soll dich schwängern!»
«Schrei es noch lauter hinaus.» Die Stimme der Fee klang nun ärgerlich. «Wenn er dir das erzählt hat, dann kennst du sicher auch den Rest der Geschichte.» Sie wurde leiser. «Es hätte wahrscheinlich ohnehin nicht geklappt, er ist gar nicht mein Typ!»
Julen verdrehte die Augen, das hatte er nun davon, die Mädels zu belauschen.
«Gut! Dann lass gefälligst die Finger von ihm. Er gehört mir, ist das klar!»
Jetzt hätte er sich beinahe verschluckt. Sieh mal an. Das Lauschen hat sich also doch gelohnt.
Der Auftritt war ein überwältigender Erfolg und die Zuschauer auch ohne Alvas gefährlichen Sirenenzauber dermaßen begeistert, dass sie nach einer Zugabe riefen. Am Ende des Konzerts erwartete Julen sie wie immer am Bühnenzugang.
Eine Zeit lang hörten sie Seite an Seite den vier Cellisten und ihrer Band zu, doch Alva war unruhig. Vielleicht lag es daran, dass das Adrenalin des Auftritts ihren Körper noch nicht ganz verlassen hatte, vielleicht war es aber auch einfach nur diese außergewöhnliche Nacht.
Bisher war keine Katastrophe über sie hereingebrochen, nichts Fürchterliches war geschehen und niemand war, soweit sie es beurteilen konnte, während ihres Auftritts zu Schaden gekommen. Alva neigte inzwischen dazu, Julens Sorge seinem ausgeprägten Beschützerinstinkt zuzuschreiben. Vielleicht war der Traum auch nichts weiter gewesen als ein Traum. Trotzdem wollte sie ihm davon erzählen. Gleich morgen. Dieser Abend war zu schön, um ihn mit finsteren Orakelgeschichten zu verderben. Vor vielen Hundert begeisterten Menschen zu singen und dabei ihren Zauber einzusetzen, ohne dessen zerstörerische Kraft zuzulassen, fühlte sich fantastisch an. Vielleicht lag es an der Magie dieses Ortes, dass sie sich hier so glücklich fühlte.
Einem Impuls folgend fragte sie: «Können wir nicht doch zu den Steinen gehen?» Von der erhöhten Bühne aus war der beeindruckende Kreis wunderbar zu sehen gewesen. Nach Einbruch der Dunkelheit hatten Menschen, die den alten Religionen folgten, zahllose Fackeln entzündet und sie auf den Wällen rund um den Kreis in den Boden gesteckt, um den Festtag des Lichtgottes zu begehen. Vor den beiden Steinen in der Mitte war eine riesige Strohfigur aufgebaut worden, die genau in dem Augenblick, als sie hinübersah, angezündet wurde und im Nu in Flammen stand.
Obwohl sie mit Wicca und anderen heidnischen Kulten wenig vertraut war, zog es sie nun selbst dorthin. Das Bild war so wunderschön, dass es sie danach drängte, zwischen den uralten Symbolen der Macht der Magie zu spazieren und die ewige Energie zu spüren.
Julen war anzusehen, dass er hin- und hergerissen war zwischen seinem Auftrag, sie zu beschützen, und dem Wunsch, sie glücklich zu sehen. Später! , versprach er und legte die Hand auf ihren Bauch. Aber wenn ich mich nicht täusche, dann habe ich da
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