Das Feenorakel
Kinder in die Welt setzten und sich dann davonmachten, ohne darüber nachzudenken, wie schwierig und manchmal auch gefährlich ihr Erbe für die Mädchen war. Sara, seine letzte Affäre, war das beste Beispiel dafür. Sie war nicht mit der Magie zurechtgekommen und musste schließlich in die Feenwelt übersiedeln, weil man nicht riskieren wollte, dass sie in der geschlossenen Abteilung der einschlägigen Krankenhäuser landete. Die magischen Fähigkeiten der Feentöchter wurden ironischerweise von der Liebe geweckt oder von den ersten ernsthaften erotischen Kontakten. Sie zeigten sich bei den meisten der betroffenen jungen Frauen erst allmählich, doch nicht jede von ihnen war stark genug, sie als einen Teil ihres Wesens anzuerkennen. Julen wollte gar nicht wissen, wie viele Feentöchter im Medikamentenwahn dahinvegetierten, weil niemand ihnen in dieser wichtigen Phase zur Seite stand.
All dies hatte er bis vor Kurzem nicht gewusst, anderenfalls hätte er bestimmt keine Affäre mit Sara begonnen, die damals noch Jungfrau gewesen war, obwohl sie bereits als fertig ausgebildete Anwältin in einer Kanzlei gearbeitet hatte. Sie hatte sich für den Richtigen aufsparen wollen. Der Plan war nicht aufgegangen. Julen war nicht der Richtige gewesen, nicht für Estelle und auch nicht für Sara. Für Alva auch nicht , dachte er trotzig und ignorierte den eigentümlichen Schmerz, den er dabei empfand. Immerhin brauchte er sich um sie in dieser Hinsicht keinerlei Sorgen zu machen. Ihre Magie war längst von jemand anderem geweckt worden. Noch ein paar Tipps und sie würde auf eigenen Füßen stehen. Schon jetzt hatte sie sich als das sinnliche Geschöpf gezeigt, zu dem alle Feen im Laufe weniger Jahre heranreiften.
Zuerst war er ziemlich überrascht gewesen, als sie in einem Traum zu ihm gekommen war. Erst später hatte er erkannt, dass sie ihren Instinkten gefolgt war und nicht zu sagen gewusst hätte, wie man eine Traumreise unternimmt.
Er hatte sich nicht zweimal bitten lassen. Wer hätte sich nicht gern von einer erfahrenen Kurtisane verführen lassen? Doch manchmal nagten Zweifel an ihm, ob sie wirklich gewusst hatte, was sie da tat. Aber selbst wenn er ihr ein gewisses ererbtes Talent unterstellte, keine unerfahrene Fee hätte sich jemals derart schamlos gebärdet, wie sie es getan hatte. Erfreulich schamlos! , dachte Julen und seine Reißzähne machten sich bemerkbar. Wie jedes Mal, sobald ihm der Gedanke kam, dass Tom und womöglich noch verschiedene andere Männer in den Genuss ihres anbetungswürdigen Körpers gekommen waren.
Ich bin ein Idiot! , warf er sich vor. Alva war Teil eines Jobs und nicht seine Seelengefährtin! Die Stimme, die ihn immer voller Zweifel begleitete, flüsterte zwar warum eigentlich nicht? , doch er ignorierte sie.
So bald würde er sich nicht noch einmal auf das Risiko einlassen, sein Herz zu verlieren. Viel war nach seinen letzten Erfahrungen ohnehin nicht mehr von dem trügerischen Organ übrig geblieben. Um ganz sicher zu gehen, dass er nicht noch einmal schwach werden würde, hatte er Alva nach ihrem frivolen Intermezzo nur noch aus der Ferne betrachtet. Schwer genug war ihm diese Entscheidung ja gefallen, doch er war stolz auf seine Disziplin. Da konnten die anderen sagen, was sie wollten. Er hatte sich im Griff und ließ sich keineswegs von jeder niedlichen Fee , wie Kieran behauptete, den Kopf verdrehen. Sie werden eines Tages dein Verhängnis sein , hatte sein Chef ihn eindringlich gewarnt. Hielt er sich etwa für ein Orakel? Wahrscheinlich nicht, denn dann wäre seine Vorhersage nicht annähernd so präzise ausgefallen. Julen musste einen ärgerlichen Laut von sich gegeben haben, denn die Zuschauer, von denen keiner mehr den Blick von der Bühne abwenden konnte, entfernten sich unauffällig aus seiner Nähe. Das wird ja immer besser! Er vergrub die Hände tiefer in den Hosentaschen und bemühte sich, sein hitziges Temperament an der Mauer in seinem Rücken abzukühlen.
Die düsteren Gedanken verschwanden jedoch sofort, als er Alvas Aufmerksamkeit spürte. Sie hatte ihn entdeckt und schien über irgendetwas besorgt zu sein. Ohne darüber nachzudenken, sandte er ihr aufmunternde Gedanken.
Und dabei geschah es: Alva öffnete sich wie ein Blütenkelch für die Musik, die einzelnen Noten perlten wie glitzernde Wassertropfen auf der samtigen Oberfläche ihrer Seele. Gleichzeitig klar und doch so weich, dass es eine einzigartige Freude war.
Das Publikum war nicht gekommen, um eine
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