Das Fest Der Fliegen
Spritzern aus dem Farbkessel schützte. Und dass er ein Selbstbewusstsein zur Schau stellte, das ihm als Tourist gefehlt hatte.
Für einen Moment vergaß Swoboda, dass hier Rotocker gekocht wurde. Obwohl die Blasen auf der Brühe eher hell rostrot waren, sah er ein anderes Bild: Der Maler rührte in einem Kessel Blut. Lavrakis war ein unauffälliger, kleiner Mann, in sich gekehrt und auf eine traurige Weise verhärtet. Vielleicht, dachte Swoboda, war er in seiner Kunst an einen Punkt gelangt, an dem es nicht weiterging, an dem er nur noch wiederholte, was gern gekauft wurde, aber selbst längst nicht mehr neugierig war auf das, was aus ihm kam. War er deshalb als Tourist nach Edinburgh gefahren? In eine Stadt, in der das Fringe-Festival die Verrückten aus aller Welt anlockte? Doch dann war der Mord geschehen. Der Tod eines Mannes. Den er ebenso beobachtet haben musste wie die anderen, die um den Projektionstisch gestanden hatten. Wie nahm er wahr, dass in der Ferne, die er gesucht hatte, dieselbe Härte existierte, die in ihm und in dem Berg war, auf dem er lebte? Alexander Swoboda ahnte nicht, dass er Lavrakis falsch einschätzte. Der Maler war nach Edinburgh geflogen, weil er David Hockneys Buch Secret Knowledge – Rediscovering the lost techniques of the Old Masters über die Camera obscura und die Camera lucida gelesen und herausgefunden hatte, dass es in Schottland eine begehbare Camera obscura gab. Er war auch nicht entsetzt von dem Mord vor dem Castle. Er hielt Mord für das allgemein und jederzeit erwartbare Verhalten der Menschen. Sie waren für ihn Steinwesen, auch wenn sie nicht aus Steindörfern wie Kastro kamen. Hier oben war alles hart, und das hieß für ihn: Hier war alles wahr. Deshalb liebte er das nackte Steinplateau des Gipfels, er liebte die Steinhäuser, die Steinkapelle und das steinerne Beinhaus des Dorfes, in dem die ausgegrabenen und gebleichten Knochen der Verstorbenen dieser Einöde aus Marmor offen herumlagen, als wären sie selbst Steine ohne Lebensgeschichte. Törring hatte vor der Tür der Küche auf der Veranda Stellung bezogen und sah von hier auf die zwei gegenüberliegenden Häuser und die Taverne. Er glaubte, den weißen Suzuki-Jeep auf einem Platz neben dem Gasthaus vorher nicht gesehen zu haben. Aber vielleicht täuschte er sich. Wenn der Wagen gekommen wäre, hätte er ihn ja hören müssen. Was er hörte, war der Zweitakter eines Motorrads. Irgendwo hinter dem Haus. Oder jenseits der Kuppe? Er sah kein Motorrad. Vielleicht auch das eine Täuschung. Hinter ihm unterhielten die Maler sich am blubbernden Farbkessel. Swoboda lernte, wie man die Farbe kocht: Auf zehn Liter Wasser vierhundert Gramm Eisensulfat oder Eisenvitriol, dazu neunhundert Gramm Roggenmehl, dreihundert Kubikzentimeter Leinölfirnis und endlich 1,6 Kilogramm Rotocker-Pigment. Die halbe Menge befand sich noch im Plastikbeutel auf dem Tisch neben dem Herd. Noch mehr war zu lernen: Dass dieser Rotocker von der Insel selbst stammte und einst eines ihrer wichtigsten Exportprodukte war. Er wurde tief im Gebirge abgebaut, und zwar in dem ältesten Untertagebau der Menschheit, wie die Archäologen sagten. In der Jungsteinzeit schon wurde hier Rotocker aus dem Berg geholt.
»This is why I use it for my painting. You know? It connects me with the island I come from. With the mountains. With the stones. With the earth. Which is the truth.« Erstaunlich, zu welchem Heldenpathos der kleine rundliche Mann fähig war. Der deutsche Exkommissar musste während dieser Reden schweigend rühren, damit das Roggenmehl nicht klumpte. Lavrakis gab das Leinölfirnis hinzu.
Törring sah vor der Taverne einen Kleinlaster vorfahren. Ein Mann trug Taschen ins Gasthaus. Der Wirt Agnoulis wachte fast immer erst gegen Mittag auf, fuhr dann mit seinem Pick-up nach Limenaria, um einzukaufen, und begann gegen halb fünf am Nachmittag, mit seiner Frau Anna das Abendessen für Lavrakis, die Arbeiter vom Wiederaufbau und die seltenen Übernachtungsgäste zuzubereiten. Langsam rötete sich der Himmel. Auf dem Weg zwischen den Häusern, der so etwas wie die Dorfstraße war, lief ein Mann im Anzug zur Taverne. Er war von dem kleinen Friedhof gekommen. Vielleicht aus der Kapelle. Domingo war im Licht des späten Nachmittags am Rand von Kastro eingetroffen, an der Taverne und dem Stein-platz vor ihr, auf dem zwei Tische mit Bänken standen, vorbeigefahren und hatte den Jeep daneben auf einem Schotterplatz abgestellt. Carafa war der Staubwolke, die
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