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Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Dobyns
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offen, als hätte sie Durst. Ihre sauberen, sinnlosen Hände schienen zu schweben. Wasser tropfte von den Fingern.
    Janie Forsyth lief zum Baum, sprang hoch und packte einen tiefhängenden Ast. Sie zog sich daran hoch, griff nach dem Ast über ihr, und eine Sekunde später saß sie auf dem Ast, an den das Seil geknotet war.
    Bobby und Montesano standen darunter. Zehn andere Polizisten hielten sich zurück, um keine Spuren am Tatort zu verwischen. Wahrscheinlich drängte es jeden von ihnen, Janie zur Vorsicht zu ermahnen, aber keiner gab einen Laut von sich. Die Leiche drehte sich weiter hin und her.
    Janie hatte ein Taschenmesser, das sie jetzt aufklappte. Sie warf einen kurzen Blick zu den Männern hinunter, die zu ihr heraufstarrten. Sie erinnerten sie an hungrige Vogelbabys. Bobbys nasses schwarzes Gesicht sah fast aus wie ein leerer Fleck, in dem das Weiße seiner Augen schwamm. Janie schob die Klinge zwischen Strick und Ast und fing an zu sägen.
    Bobby stand unmittelbar unter der Toten. Ninas Füße schwebten ungefähr einen Meter hoch über dem Boden, und wenn er sich hinaufstreckte, konnte er ihre Taille erreichen. Als das Seil durchschnitten war, fiel Nina ihm entgegen, und er ließ sie auf seine Schulter sacken. Überrascht spürte er, wie schwer sie war. Ihr dickes Sweatshirt war vom Regen durchtränkt. Vielleicht ist es nur das, dachte er. Luftgewehrkugeln fielen zu Boden wie ein kleiner goldener Regenschauer. Bobby ließ Nina heruntergleiten und nahm sie auf die Arme. Als ihr nasses Haar sein Gesicht streifte, dachte Bobby, er müsse schreien. Er achtete darauf, sie nicht anzuschauen; er wollte ihre Augen nicht sehen. Er brachte sie zu einer Trage, neben der die übrigen Polizisten warteten. Das Seil glitt hinter ihm her. Wie eine Schlange, dachten alle.
    Bobby blieb noch zwei Stunden im Wald. Er hatte keine Mütze, aber er trug einen Ledermantel. Trotzdem war er völlig durchnässt. Die uniformierten Trooper hatten Regenzeug. Jemand bot Bobby einen Schirm an, doch er lehnte ab. Er hatte das Gefühl, er verdiente, nass zu werden, auch wenn das dumm war. Ihm war kalt, wenn auch nicht halb so kalt wie Nina, nicht mal ein Zehntel so kalt. Jedes Alter war ein beschissenes Alter zum Sterben, aber sechzehn war besonders hart. Nach einer Weile nahm der Rechtsmediziner den Leichnam mit nach Providence, doch es war, als hänge Nina immer noch in der Luft, so sehr, dass Bobby sich bemühte, nicht hochzuschauen. Ihr Handy fehlte, und eine Tasche war nicht gefunden worden. Montesano sagte, es gebe keine offensichtlichen Fußspuren außer Ninas eigenen und denen der Polizisten, aber das stand nicht zweifelsfrei fest. Es gab Pfotenabdrücke. Nasses Laub bedeckte den Boden, und darin würden sich vielleicht noch Spuren finden lassen, nur wären sie schwer zu entdecken. Ninas Tod sah eher nach Selbstmord als nach Mord aus.
    »Ich kann es nicht beschwören«, sagte Montesano, »aber alles deutet in diese Richtung.«
    Bobby konnte über das, was sich zugetragen hatte, nur spekulieren. Als Nina aus dem Haus geflüchtet war, hatte sie entweder jemanden angerufen, oder sie war auf der Water Street, wo der Hund die Spur verloren hatte, jemandem begegnet. Dann war sie entweder bei dieser Person geblieben oder hatte sich mit jemand anderem getroffen. Irgendwo hatte sie sich das Seil beschafft, irgendwo hatte sie ihr Handy zurückgelassen. Vermutlich enthielt das Telefon ein Adressenverzeichnis und eine Anrufliste. Diese Liste konnte er auch von der Telefongesellschaft bekommen, wenn Nina keine Prepaid-Karte benutzt hatte, wie es viele junge Leute heutzutage taten.
    Als Bobby sich diese Möglichkeiten durch den Kopf gehen ließ, kehrte seine Wut zurück. Wer immer mit Nina zusammen gewesen war, hatte nicht versucht – wenigstens nicht hinreichend –, sie vor dem Selbstmord zu bewahren. Hatte diese Person sie sogar ermutigt? Hatte sie den Samstagabend und den ganzen Sonntag mit dieser Person verbracht? Hatte die Person ihr das Seil gegeben und ihr Handy genommen? Das ließe vermuten, dass der oder die Betreffende etwas mit der Vergewaltigung zu tun hatte und sich zu schützen versuchte. In dem Fall, dachte Bobby, war Ninas Tod kein Selbstmord, sondern Mord gewesen, auch wenn ein Gericht das vielleicht anders sehen würde.
    Was hatte diese anonyme Person denn zu gewinnen? Fortgesetzte Anonymität. Und wie hatte sie Nina dazu bewegen können, ihr Leben zu beenden? Sie konnte damit gedroht haben, die Vergewaltigung öffentlich zu

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