Das Fest der Schlangen
dass er sie nicht einholen konnte. Er wandte sich Bartons Kombi zu, der neben dem Haus parkte. Carl war noch nicht fertig. Er riss die Tür auf und ließ sich auf den Sitz fallen. Der Zündschlüssel steckte. Barton Wilcox sagte immer: »Wer kommt schon hier hereinspaziert und klaut ein altes Auto? Ich lasse den Schlüssel lieber da, wo ich ihn finden kann.«
Carl setzte zurück und nahm Kurs auf das Tor. Er hatte weder die Kraft noch die Lust, es zu öffnen. Er trat das Gaspedal herunter und schaltete in den zweiten Gang. Der Motor heulte auf. Wahrscheinlich fuhr er vierzig Meilen pro Stunde, als der Kombiwagen durch das Tor brach. Seine Schulter tat jetzt sehr weh. Auf dem Beifahrersitz lag ein rosa Kinderpullover. Carl schob ihn unter den Overall und drückte ihn auf das Loch in seiner Schulter. Er wartete darauf, dass er sich wieder gut fühlte. »Ich bin noch nicht fertig«, sagte er immer wieder.
17
Zuerst sah es nicht so aus, als kämen die Kojoten näher, dann taten sie es doch. Hercel, Tig und Lucy waren in den Wald geflohen, und jetzt wusste Hercel nicht mehr, wo sie waren. Er wusste nicht mehr, wo Norden und wo Süden war, wo die Straße entlangführte und wo das Haus lag. Es war fast dunkel. Lucy wollte nicht mehr rennen, sie wollte sich hinlegen. In seiner Frustration wollte Hercel schreckliche Dinge sagen: »Carl will dich fressen!« Er war selbst schockiert und sagte nichts. Er schaute umher, aber überall sah es gleich aus. Anfangs sah er über sich noch die kahlen Äste, doch es wurde immer dunkler, und die Äste verschwammen ineinander. Sie stolperten immer wieder, und Zweige peitschten ihre Gesichter. Rennen konnten sie nicht mehr. Sogar das Gehen war schwierig.
Tig weinte, aber sie ließ Lucys Hand nicht los. Im Geiste sah sie Gray auf der Wiese liegen, und sie wusste, dass Barton etwas Schreckliches zugestoßen war. Noch nie zuvor war sie bedroht worden, und die Angst war wie ein furchterregendes Geschöpf in ihrem Kopf. Es war, als lebe sie das Leben eines anderen Menschen.
»Sie kommen«, sagte Hercel.
Er brauchte nicht zu erklären, wen er meinte. Tig hörte sie auch. Sie versuchten wieder zu rennen, und dann rutschte Tig ins Wasser. Sie hielt Lucys rechte Hand, Hercel hielt ihre linke. Tig klammerte sich fest an Lucy, ohne es zu merken, und das Kind fing an zu schreien. Hercel zog auf der anderen Seite, und einen Moment lang zerrten beide an ihr. Tig fiel hin, keuchte einen Moment lang und rappelte sich wieder auf. Hercel kniete neben seiner Schwester und tätschelte ihr beruhigend den Rücken. Er stellt sich vor, wie die Kojoten ihrem Weinen lauschten. Sie würden kichern und mit den Pfoten in ihre Richtung zeigen. Endlich verstummte Lucy. Jetzt hörte Hercel die Kojoten auch vor ihnen, erwähnte es jedoch nicht.
In einer kleinen Kette liefen sie weiter. Sie hielten sich vom Wasser fern und versuchten, sich nicht in Ranken und Dornen zu verheddern. Je dunkler es wurde, desto heller leuchteten die roten Blinklichter an Lucys Absätzen.
»Sie kommen näher, nicht wahr?«, fragte Tig. Eigentlich war es keine Frage.
»Ich glaube, ja.« Hercel wusste, dass die Kojoten inzwischen längst hätten über sie herfallen können, und er fragte sich, warum sie es noch nicht getan hatten. Vielleicht spielten sie irgendein abscheuliches Spiel.
Er hielt Ausschau nach einem Baum, auf den sie klettern könnten, aber er sah die Bäume erst, wenn sie direkt davor standen, und die Äste waren immer zu hoch. Hercel wusste, dass er sich allein an einem Baumstamm hochziehen könnte, doch dann müsste er Tig und Lucy zurücklassen. Er zog den Schraubenzieher aus dem Gürtel. Das sah albern aus, fühlte sich aber gut an.
Bald kamen sie überhaupt nicht mehr weiter. Die Kojoten waren rings um sie herum, auch wenn Hercel sie noch nicht sehen konnte. Ihr Kläffen klang eifrig und angeberisch.
»Was ist mit den Steinen da?«, fragte Tig.
Links von ihnen, im letzten Dämmerlicht, auf einer Lichtung abseits des Wassers, sah Hercel einen Haufen Steine. Keine eingestürzte Mauer, sondern ein rundes Dutzend Felsbrocken auf einer Böschung. Hercel folgte Tig und Lucy, als sie darauf zugingen, doch er wusste, es war hoffnungslos. Selbst wenn sie sich zwischen den Steinen verkriechen könnten, würden die Kojoten sie herausziehen, wie eine Möwe eine Muschel aus ihrer Schale zupft. Als sie auf der Lichtung waren, sah er die ersten Sterne. Bald würde es stockfinster sein. Er hob einen kleinen Stein auf, dann noch
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