Das Fest der Schlangen
den Blick nicht von Jenny Brantley wenden und wünschte, sie hätte eine Kamera dabei. Sie zwang sich wegzuschauen. An den Schlafzimmerwänden hingen weitere Meereslandschaften. Lajoie sah ein gerahmtes Farbfoto, auf dem Brantley und seine Frau nebeneinanderstanden. Er trug einen Smoking und sie das Kleid, das sie jetzt anhatte. Glücklich sahen sie aus, erfolgreich und verliebt.
»Das war’s«, sagte Lajoie. »Das glückliche Paar ist ernstlich im Arsch.«
Sie verließ das Schlafzimmer und ging durch die Seitentür hinaus ins Freie. Mit der Taschenlampe leuchtete sie auf dem Schnee herum, bis sie Brantleys Fußabdrücke gefunden hatte. Jetzt waren es eher Dellen als Fußabdrücke, aber Lajoie konnte sie bis an den Strand hinunter verfolgen. Der Nordostwind ließ den Schnee über die flachen Dünen wirbeln und zerrte an ihrer Jacke. Im Licht ihrer Lampe funkelte das wilde Gestöber. Die Wellen krachten und wisperten, krachten und wisperten. Nach ein paar Augenblicken sah sie Brantley am Rand des Wassers stehen.
Lajoie näherte sich vorsichtig. Brantleys silbernes Haar wehte im Wind. Er trug nur einen Anzug, und ihm musste kalt sein. Seine Hände hingen leer herab. Lajoie blieb hinter ihm stehen und berührte seine Schulter.
»Wir wollten glücklich sein.« Brantley drehte sich nicht um. Es war, als spräche er mit dem Meer. Lajoie wurde klar, dass er ihr Licht gesehen hatte. Sie beugte sich vor, um ihn zu hören. »Wir hätten letzte Woche weggehen sollen, wie sie es wollte. Balfour hat es immer wieder hinausgeschoben. Ich hätte nie auf ihn hören sollen.«
Sie schauten beide aufs Wasser hinaus. Dann fragte Lajoie: »Woran ist sie gestorben?«
»Schlaftabletten, nehme ich an. Ich habe sie auf der Couch im Wohnzimmer gefunden. Sieht sie nicht schön aus?«
Brantley hatte sie zwei Stunden zuvor entdeckt. Er hatte ihr das Kleid angezogen, sie geschminkt und ihr die Halskette angelegt. Dann hatte er sie zum Bett getragen und die schwarzen Pumps auf den Teppich gestellt. Er hatte ihr die Nägel lackiert.
»Ich wünschte, ich könnte malen wie sie. Ich hätte sie gemalt, wie sie jetzt ist. Ich wünschte, sie hätte gewartet. Es war immer noch Zeit wegzugehen. Alles war bereit. Ich habe sogar ein Haus am Strand gekauft. Ein schönes Haus. Es hat auf sie gewartet, das habe ich ihr gesagt. › Es wartet auf dich ‹ , habe ich gesagt. Doch sie war zu weich. Auch das habe ich an ihr geliebt.«
»Wir müssen jetzt gehen«, sagte Lajoie.
»Ich weiß. Ich wusste, Sie würden bald kommen. Ich wollte ins Wasser gehen, aber ich habe Angst bekommen. Ist das nicht lächerlich? Ich wünschte, man würde mir erlauben, sie vorzubereiten und die Bestattung zu übernehmen. Ich würde ihr mit eigenen Händen eine Gruft bauen, die größte Gruft in Brewster. Das werde ich natürlich nicht dürfen. Doch was macht das auch? Es ist vorbei.«
Woody und Bobby Anderson fuhren mit dem Tundra zu Balfours Farm. Wie Bobby zugab: »Der Z ist scheiße bei Schnee.«
Nach etwa vier Meilen kamen sie zur Hazard Road. Dr. Balfours Farm zu finden, war nicht schwer, wenn man wusste, wo man suchen musste – ein Feldweg ohne Briefkasten, der jetzt unter fünfzehn Zentimetern Schnee verschwunden war. Trotzdem waren noch Reifenspuren zu erkennen. Wie Bobby nicht ganz ohne Neid bemerkte, war Balfours Audi TTS vielleicht der einzige Sportwagen mit Allradantrieb.
Im Farmhaus brannte Licht, und bei der Scheune und am Zwinger ebenfalls. Ein weißer Chevy-Lieferwagen und Balfours Audi parkten vor dem Haus. Legros’ Streifenwagen der State Police stand vor der Scheune. Woody hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet. Er hielt seine Pistole schon in der Hand und hatte das Fenster heruntergedreht. Jimmy hatte gesagt, Balfour habe Bingos Waffe genommen, und Rodger Legros’ Pistole hatte er auch. Laut Bobby waren weitere Trooper unterwegs. Er hatte sie angefordert, aber die meisten Polizisten waren noch in Brewster beschäftigt. Es war Halloween, und Kojoten streunten umher.
Woody fuhr den Tundra auf die andere Seite des Chevy, dann sprangen Bobby und er heraus. Bobby sah, dass die Zwingertür offen stand. Der Zwinger schien leer zu sein, nicht mal Spuren waren zu sehen. Drei kahle Ahornbäume standen im Garten, voller Schnee auf der einen Seite, schwarz auf der anderen.
Sie gingen um den Lieferwagen herum zum Haus. Keiner der beiden trug Stiefel. Der Wind heulte, und vielleicht hatte er das Motorgeräusch des anrollenden Trucks übertönt. Das hofften sie
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