Das Fest der Zwerge
mir eine Mail geschickt. Aber vermutlich hatte er Besseres zu tun in der Hektik der Weihnachtszeit.
An der nächsten Station stieg eine schwarz gekleidete Frau zu und setzte sich mir gegenüber. Etwas unwillig zog ich meine Füße zurück. Dann fiel mein Blick auf ihr Gesicht.
Sie war unglaublich schön. Ihre Haut hatte einen leichten Bronzeschimmer, die Backenknochen waren hoch, die Augen groß. Ihre Züge selbst waren von einer absoluten Ebenmäßigkeit und Harmonie, als hätte ein Bildhauer sie gestaltet. Einfach perfekt.
Ich starrte die Frau an und war regelrecht hingerissen. Und, ohne es zu wollen, wallte Neid in mir auf. Was würde ich für so ein Aussehen geben! In diesem Moment schoss es mir durch den Kopf, dass ich – hätte ich die Wahl – ohne die geringsten Bedenken mein schriftstellerisches Talent gegen eine derartige Schönheit eintauschen würde.
Ja, das würde ich tatsächlich tun!
Die Frau hob die Brauen, und ich drehte meinen Kopf schnell zur Seite, peinlich berührt, weil ich sie so angegafft hatte. Ich spürte, wie sie mich aus den Augenwinkeln beobachtete. Spürte ihren Blick fast wie ein körperliches Kribbeln. Dann huschte ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht. An der nächsten Station stieg sie aus, und ich konnte meine Beine für den Rest der Fahrt ausstrecken. Das seltsame Gefühl ließ mich nicht los.
In meiner Wohnung war es warm, und das Licht des Anrufbeantworters blinkte. Noch in Mantel und Stiefeln drückte ich auf den Wiedergabeknopf.
»Hallo, Marlene, hier ist Bernd. Wollte nur mal hören, wie es in Stuttgart gelaufen ist. Ruf mich an, wenn du zurückkommst. Ciao.«
Ich schlüpfte in meinen kuscheligen Hausanzug, aß eine Banane, setzte Tee auf und rief Bernd zurück. Ich berichtete, wie es gewesen war und dass er überhaupt nichts versäumt hatte. Dann fragte ich ihn, ob er gut mit seinem Roman vorankomme. Er erzählte mir, wie er sich den Schluss vorstellte, und las mir ein Stück vor, das er an diesem Tag geschrieben hatte. Es gefiel mir sehr.
»Voraussichtlich werde ich bis Weihnachten mit dem Roman fertig sein«, sagte Bernd. »Noch zehn, höchstens zwanzig Seiten, dann habe ich es geschafft.«
»Toll«, erwiderte ich. Er arbeitete seit dem Frühjahr daran, und ich konnte nachvollziehen, welche Erleichterung es war, einen 600-Seiten-Wälzer abzuschließen.
»Und du, was macht deine neue Idee?«, fragte Bernd.
»Ich habe ein paar gute Ansätze«, antwortete ich. »Auf der Fahrt nach Stuttgart habe ich mir ein paar handschriftliche Notizen gemacht. Aber richtig fange ich erst nächstes Jahr an, über Weihnachten habe ich mir frei genommen.«
Auch er würde frei haben, wenn er seinen Roman beendet hatte, und ich wünschte mir, er würde vorschlagen, unsere freien Tage gemeinsam zu verbringen. Doch leider wechselte er das Thema und redete von einem Buch, das er gerade las und das er mir wärmstens empfehlen konnte. Nach einer Dreiviertelstunde beendeten wir das Gespräch, und ich fühlte mich unzufrieden, ohne dass es eine Verstimmung zwischen uns gegeben hatte. Ich ließ heißes Wasser in die Badewanne ein, goss Rosmarinöl dazu, zündete Kerzen an und ließ meine Lieblingsplatte laufen. Dann stieg ich in die Wanne, aber weder das Bad noch die Musik ließen die Leere in meinem Innern verschwinden.
Vielleicht lag es daran, dass ich mir eine Schreibpause verordnet hatte. Ich hatte schon häufig festgestellt, dass ich mich besser fühlte, wenn sich meine Gedanken auf eine Geschichte konzentrierten. War ich unbeschäftigt, fing ich an, immer wieder die gleichen wunden Punkte in meinem Leben aufzuwerfen. Ich dachte auch an Thomas, der mit seiner ehemaligen Arbeitskollegin nun eine dreijährige Tochter hatte, und weil wir seit dem Sommer wieder lockeren Kontakt hatten, überlegte ich, ob ich der Kleinen etwas zu Weihnachten schenken sollte. Vielleicht erwartete Thomas das sogar von mir.
Ich konnte mich zu keiner Entscheidung durchringen. Tropfend stieg ich aus der Wanne, trocknete mich ab und föhnte vor dem Spiegel mein Haar, das ungewohnt glänzend über meine Schultern fiel. Offenbar stammte der Glanz von dem Shampoo, das ich zum ersten Mal verwendet hatte. Überhaupt sah mein Gesicht sehr entspannt aus, fand ich, geradezu erholt, und ich war beruhigt, dass die Tagung in Stuttgart keine Spuren hinterlassen hatte. Etwas ausgeglichener setzte ich mich an den Schreibtisch und fuhr den Computer hoch, um meine Notizen für den Roman in eine Computerdatei zu
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