Das Fest der Zwerge
großen Standspiegel.
Der Spaziergang hatte eine gesunde Farbe auf meine Wangen gezaubert, ich wirkte jung und unternehmungslustig. Meine Augen leuchteten. Ich trat ganz nah vor den Spiegel, dann wieder ein Stück zurück und fragte mich, wodurch sich mein Aussehen so verändert hatte. Das war doch immer noch ich, oder nicht? Ich war es – und auch wieder nicht. Es schien, als hätte ein Fotograf mein Spiegelbild so lange retuschiert und jeden Makel verschwinden lassen, bis nur noch meine schönen Seiten sichtbar waren. Unglaublich.
Plötzlich kam mir ein abenteuerlicher Gedanke.
Die Frau in der S-Bahn. Sie war wunderschön gewesen, makellos, wie ich jetzt, und sie hatte so geheimnisvoll gelächelt …
Konnte es sein, dass diese Begegnung irgendetwas bewirkt hatte? War es möglich, dass die Frau meinen Wunsch nach Schönheit erfüllt hatte? Dass sie eine Magierin war?
Ich schüttelte den Kopf. Unmöglich. Was fiel mir nur ein? Verwechselte ich jetzt endgültig Phantasie und Wirklichkeit? Vielleicht sollte ich besser Kriminalromane schreiben.
»Was treibst du dahinten?«, rief Bernd aus der Küche.
Ich griff nach der Weinflasche und verließ das Zimmer.
Das Menü, das Bernd gekocht hatte, war vorzüglich.
»Wenn es mit dem Schreiben eines Tages nicht mehr klappen sollte, dann hast du noch ein zweites Standbein als Koch«, meinte ich und lehnte mich zufrieden auf meinem Stuhl zurück.
Bernd sah erschrocken aus. »Willst du damit sagen, dass meine Bücher schlechter geworden sind?«
Ich lachte. »Im Gegenteil, du wirst immer besser. Ich bin schon sehr gespannt auf deine neue Geschichte. Hoffentlich darf ich sie bald lesen.«
»Erst, wenn das Buch herausgekommen ist.« Er griff nach einem Glas Wein. Dann gestand er zögernd, wie sehr er davor Angst hatte, eines Tages die Kreativität zu verlieren und auszubrennen wie ein Streichholz. Es war die typische Angst eines Schriftstellers, auch wenn sie mich selbst noch nie geplagt hatte. Bis jetzt.
»Es muss furchtbar sein, wenn man begreift, dass man nichts mehr zu erzählen hat.«
»Und noch furchtbarer, wenn man es nicht begreift«, ergänzte ich.
Unsere Blicke trafen sich. Bernd beugte sich über den Tisch, ergriff meine Hand und drückte sie.
»Weißt du, wie froh ich bin, dass du hier bist? Du bist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist. Mit dir kann ich über alles reden, du verstehst mich.«
Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. »Ich bin auch sehr froh, dass du mein Freund bist«, gestand ich. »Und mehr als ein Freund.«
Und dann beugte ich mich vor und küsste ihn auf den Mund.
Im ersten Moment war er völlig überrascht, aber dann erwiderte er meinen Kuss.
Mein Bett im Gästezimmer blieb in dieser Nacht unberührt. Wir liebten uns mehrere Male, so als müssten wir das bisher Versäumte nachholen. Unsere Liebe war stürmisch, zärtlich und manchmal auch fast bewegungslos, um die Innigkeit, die uns verband, staunend auszukosten.
Am anderen Morgen erwachte ich früher als er, und ich konnte ihn beim Schlafen beobachten. Mein Wunsch war endlich in Erfüllung gegangen, und wir hatten eine wunderschöne Nacht verbracht. Trotzdem hatte ich Angst, dass er vielleicht bereuen könnte, was geschehen war – dass es unüberlegt gewesen war und seinen Prinzipien widersprach; dass er sich hatte hinreißen lassen oder dass der Alkohol daran schuld gewesen war. Schließlich hatte ich keinerlei Anhaltspunkte, dass er seine Einstellung mir gegenüber geändert hatte. Ich wusste nur, dass er es leid war, nach seiner Traumfrau zu suchen, vielleicht bedeutete ich zu diesem Zeitpunkt nur eine willkommene Abwechslung.
Doch meine Zweifel zerstreuten sich in dem Moment, als er die Augen aufschlug.
»Marlene …« Er zog mich lächelnd in die Arme.
Die nächsten Tage waren wunderbar, wie ein einziger Glücksrausch. München war voller Menschen, aber es schien nur uns zwei zu geben, und alles, was wir sahen oder hörten, war für uns bestimmt – der Weihnachtsmarkt, das Glockenläuten der Marienkirche, die Schneeflocken, die vom Himmel fielen. Als wir am zweiten Weihnachtstag in die Berge fuhren und das grandiose Alpenpanorama vor uns lag, wurde mir bewusst, wie unglaublich und unfassbar unsere Liebe war – genauso majestätisch und Ehrfurcht einflößend wie dieses Naturwunder. Ich kam immer mehr zu der Überzeugung, dass eine übernatürliche Kraft ihre Hand im Spiel gehabt hatte.
Mein Spiegelbild zeigte mir jeden Tag neue Facetten:
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