Das Fest der Zwerge
übertragen.
Als ich das Heft aufschlug und meine Kritzeleien betrachtete, konnte ich plötzlich nichts mehr damit anfangen. Die Stichpunkte und Gedankenblitze, die mir im Zug so vielversprechend oder sogar genial vorgekommen waren, erschienen mir nur noch banal und langweilig, teilweise richtig albern. Die meisten Ideen standen leer im Raum, ich konnte mich nicht mehr an den Zusammenhang erinnern, der mir noch auf der Fahrt völlig klar gewesen war. Trotzdem tippte ich die einzelnen Worte in den Computer, darauf hoffend, dass sich mir die Querverbindungen beim Aufschreiben wieder erschließen würden oder dass sich daraus neue Handlungsfäden spinnen ließen … Normalerweise kann ich aufgrund weniger Stichworte eine Geschichte entwickeln; einmal angestoßen, beginnen die Rädchen in meinem Kopf auf Hochtouren zu rattern, und eine Assoziation reiht sich an die andere …
Doch diesmal passierte nichts dergleichen. Die geschriebenen Worte blieben einsame Solisten, es war kein Orchester erkennbar, keine Ordnung, nicht die Andeutung einer hinreißenden Komposition.
Frustriert schaltete ich den Computer aus. Vielleicht musste ich ganz neue Ansatzpunkte finden und den Roman völlig anders angehen. Ich hoffte, dass ich keine Schreibblockade hatte. Das war mir noch nie passiert. Vermutlich sollte ich wirklich einmal eine Schreib- und Ideenpause einlegen und die freien Tage als solche genießen. Ich hatte schließlich noch genug Zeit, den neuen Text musste ich erst im kommenden Sommer abliefern.
Während ich zu Abend aß, zappte ich durch das Fernsehprogramm. Die Werbung erinnerte penetrant daran, dass Weihnachten bevorstand.
Weil mich kein Programm fesselte, ging ich früh schlafen – nicht ohne einen zufriedenen Blick auf mein Spiegelbild geworfen zu haben. Mein Haar schimmerte weich und seidig. Im Bett fasste ich den Entschluss, am nächsten Tag noch einmal Bernd anzurufen und das Thema Weihnachten einfach anzusprechen. Vielleicht konnten wir uns ja doch treffen. Was sprach denn dagegen, etwas zusammen zu unternehmen? Wir hatten uns das letzte Mal im August gesehen, und schließlich waren wir gute Freunde.
Ich wartete mit dem Anruf bis elf Uhr vormittags, um ganz sicherzugehen, Bernd nicht aus dem Bett zu werfen. Meistens arbeitete er bis spät in die Nacht, manchmal bis drei Uhr morgens. Dafür begann er mit dem Schreiben nie vor dem Nachmittag.
Bernd freute sich offensichtlich, dass ich anrief. Er war nachts gut vorangekommen und las mir wieder ein Stück vor. Ich lobte seinen Text, auch wenn ich kaum zugehört hatte.
Als ich mich dann durchgerungen hatte, ihm vorzuschlagen, sich über Weihnachten zu treffen, war er sofort einverstanden. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Er lud mich nach München ein und machte gleich Vorschläge, was wir unternehmen konnten, Stadtbummel über den Weihnachtsmarkt, Theaterbesuch, eine Schneewanderung in den Bergen. Er sprudelte regelrecht über vor Ideen. Allerdings musste ich mir in Erinnerung rufen, dass er nicht nur meinetwegen so euphorisch war, sondern wohl hauptsächlich deswegen, weil sein Roman bald fertig war.
Trotzdem schwebte ich nach dem Telefonat wie auf Wolken, und ich beschloss, in die Stadt zu fahren, um nach einem passenden Weihnachtsgeschenk für Bernd Ausschau zu halten.
Unterwegs überkam mich die Lust, mir auch etwas Neues zum Anziehen zu kaufen, speziell für den Besuch in München. Mein Konto war momentan gut gefüllt, weil vor kurzem zwei meiner Bücher ins Ausland verkauft worden waren. Ich fand auf Anhieb einen schwarzen Rock und zwei Oberteile, die ich anprobierte. Als ich mich in der Kabine auszog, wappnete ich mich gegen den Anblick im Spiegel, aber das Licht schimmerte an diesem Tag ungewohnt freundlich, ohne die Haut bleich erscheinen zu lassen. Die ausgesuchten Teile saßen wie angegossen. Als ich mich vor dem Spiegel drehte, schwang der lange Rock genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte, und ich schien darin förmlich zu schweben. Ich fühlte mich wie eine Königin, als ich zur Kasse ging, so zufrieden war ich mit meiner Wahl.
Für Bernd kaufte ich einen Krimi, den er schon mehrmals erwähnt hatte. Ein zu großes Geschenk schien mir zu aufdringlich, ein Buch war aber immer gut. Ich besorgte auch Geschenke für meine Eltern und sogar für Thomas' Tochter. Den Abend verbrachte ich damit, Päckchen zu packen.
Die Woche verging wie im Flug. Am Mittwoch schickte mir Bernd eine Mail, dass er mit seinem Roman fertig sei und den Champagner schon
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