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Das Fest des Ziegenbocks

Das Fest des Ziegenbocks

Titel: Das Fest des Ziegenbocks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Hast, aber er rührte weder das mangú noch den gebratenen Käse, noch die Scheibe Toastbrot mit Honig an. Er las noch einmal Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe den Brief im Öffentlichen Forum. Zweifellos war er vom Flüssigen Verfassungsrechder verfaßt worden, dem bevorzugten Schreiber der Intrigen, aber vom Chef angeordnet; niemand würde es wagen, einen solchen Brief ohne Trujillos Erlaubnis zu schreiben oder gar zu veröffentlichen. Wann hatte er ihn zum letzten Mal gesehen? Vorgestern, beim Spaziergang. Er wurde nicht gerufen, um neben ihm zu gehen, der Chef hatte die ganze Zeit mit General Roman und General Espaillat geplaudert, ihn jedoch mit der gewohnten Ehrerbietung gegrüßt. Oder nicht? Er strengte sein Gedächtnis an. Hatte er eine gewisse Verhärtung in diesem starren, einschüchternden Blick gewahrt, der den äußeren Schein zu durchdringen und bis zur Seele des Betrachteten vorzustoßen schien? Eine gewisse Knappheit beim Beantworten seines Grußes? Eine gerunzelte Stirn? Nein, er erinnerte sich an nichts Außergewöhnliches. Die Köchin fragte ihn, ob er zum Mittagessen käme. Nein, nur zum Abendessen, und er nickte, als Aleli ihm das Menü vorschlug. Als er den Wagen der Senatspräsidentschaft vor seinem Haus vorfahren hörte, schaute er auf die Uhr: Punkt acht Uhr. Dank Trujillo hatte er entdeckt, daß Zeit Gold wert ist. Wie viele andere hatte er seit seinen jungen Jahren die Obsessionen des Chefs zu seinen gemacht: Ordnung, Genauigkeit, Disziplin, Perfektion. Der Senator Agustín Cabral hatte
    es einmal in einer Rede gesagt: »Dank Seiner Exzellenz, dem Wohltäter, haben wir Dominikaner die Wunder der Pünktlichkeit entdeckt.« Auf dem Weg zur Haustür zog er sein Jackett an. ›Wenn man mich abgesetzt hätte, wäre der Wagen der Senatspräsidentschaft nicht gekommen, um mich abzuholen.‹ Sein Assistent, der Leutnant der Luftwaffe Humberto Arenal, der niemals seine Verbindungen zum SIM vor ihm verheimlicht hatte, öffnete ihm die Autotür. Der Dienstwagen mit Teodosio am Steuer. Der Assistent. Es gab keinen Grund zur Sorge. »Hat er nie erfahren, warum er in Ungnade gefallen ist?« fragt Urania verwundert.
    »Nie mit Gewißheit«, erklärt Tante Adelina. »Es gab viele Vermutungen, weiter nichts. Jahre um Jahre hat Agustín sich gefragt, was er getan hatte, daß Trujillo so verärgert war, von einem Tag zum anderen. Daß ein Mann, der ihm sein Leben lang gedient hatte, zum Aussätzigen wurde.« Urania bemerkt das ungläubige Staunen, mit dem Marianita ihnen zuhört.
    »Das kommt dir alles vor wie von einem anderen Stern,
    nicht wahr?« Das Mädchen wird rot.
    »Es ist einfach so unglaublich, Tante. Wie in dem Film von Orson Welles, Der Prozeß, den sie im Filmklub vorgeführt haben. Anthony Perkins wird verurteilt und hingerichtet, ohne daß er herausfinden kann, warum.« Manolita fächelt sich seit einer Weile mit beiden Händen Luft zu; sie läßt es sein, um sich einzuschalten: »Angeblich fiel er in Ungnade, weil man Trujillo einredete, die Bischöfe hätten sich durch Agustíns Schuld geweigert, ihn zum Wohltäter der katholischen Kirche zu ernennen.« »Man hat tausend Sachen behauptet«, seufzt Tante Adelina. »Das war das Schlimmste seines Leidensweges, die Zweifel. Die Familie ging dem Ruin entgegen, und niemand wußte, welche Anschuldigung man gegen Agustín erhob, was er getan oder nicht getan hatte.« Es war kein Senator im Gebäude des Senats, als Agustín Cabral es wie jeden Tag morgens um acht Uhr fünfzehn betrat. Die Wache salutierte vorschriftsmäßig, und die Amtsdiener und Angestellten, denen er in den Gängen auf dem Weg zu seinem Büro begegnete, wünschten ihm mit dem üblichen Überschwang einen guten Tag. Aber seinen beiden Sekretären, Isabelita und dem jungen Anwalt Paris Goico, stand die Besorgnis ins Gesicht geschrieben. »Ist jemand gestorben?« scherzte er. »Macht ihr euch Sorgen wegen des Briefchens im Öffentlichen Forum? Wir werden diese Infamie auf der Stelle klären. Ruf den Direktor von El Caríbe an, Isabelita. Zu Hause, Panchito geht nicht vor Mittag in die Redaktion.« Er setzte sich an seinen Schreibtisch, warf einen Blick auf den Dokumentenstapel, auf die Korrespondenz, auf den vom tüchtigen Parisito aufgestellten Terminplan des Tages. ›Der Brief ist vom Chef diktiert worden.‹ Eine Schlange glitt seine Wirbelsäule hinunter. War es einer dieser Theatercoups, die den Generalissimus amüsierten? Inmitten der Spannungen mit der Kirche, der

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