Das Fest des Ziegenbocks
verschwimmendes Gesicht leicht in seine Richtung zu neigen, vor dem Hintergrund der Photographie des Chefs in großer Paradeuniform. In diesem Augenblick mußte der Senator an das Zitat von Ortega y Gasset denken; er hatte es in das kleine Notizbuch notiert, das er immer in der Tasche trug.
Auch der Papagei Samson wirkt wie versteinert nach den Worten Uranias; er verharrt still und stumm, genau wie Tante Adelina, die mit offenem Mund aufgehört hat, sich zu fächeln. Lucinda und Manolita sehen sie verwirrt an. Marianita blinzelt unaufhörlich. Urania durchzuckt der absurde Gedanke, der wunderschöne Mond, der durch das Fenster hereinschaut, billige, was sie gerade gesagt hat. »Ich verstehe nicht, wie du das von deinem Vater sagen kannst«, reagiert ihre Tante Adelina. »Ich habe in meinem langen Leben niemanden gekannt, der sich mehr für seine Tochter geopfert hätte als mein armer Bruder. Hast du das mit dem
›schlechten Vater‹ ernst gemeint? Du warst seine Angebetete. Und seine Qual. Um dir nicht wehzutun, hat er nicht wieder geheiratet, als deine Mutter starb, obwohl er so jung Witwer wurde. Wem hast du denn das Glück zu verdanken, in den Vereinigten Staaten studieren zu können? Hat er nicht alles ausgegeben, was er besaß? Das nennst du einen schlechten Vater?« Du darfst ihr nicht antworten, Urania. Was kann diese kleine Alte, die ihre letzten Jahre, Monate oder Wochen lebt, unbeweglich und verbittert, für etwas, das so lange zurückliegt? Antworte ihr nicht. Stimme zu, verstell dich. Entschuldige dich, verabschiede dich und vergiß sie für immer. Ruhig, ohne die geringste Streidust sagt sie: »Er hat diese Opfer nicht aus Liebe zu mir gebracht, Tante. Er wollte mich kaufen. Sein schlechtes Gewissen reinwaschen. Obwohl er wußte, daß es vergeblich war, daß er tun konnte, was er wollte, und sich doch für den Rest seines Lebens als der gemeine, böse Mensch fühlen würde, der er war.«
Als er die Räumlichkeiten des Geheimdienstes an der Avenida Mexico Ecke Avenida 30 de Marzo verließ, schien ihm, als würden die Polizisten der Wache ihm einen mitleidigen Blick zuwerfen, ja als würde einer ihn anstarren und dabei über die San-Cristóbal-Maschinenpistole streichen, die er quer über der Brust trug. Er fühlte Atemnot und leichten Schwindel. Stand das Zitat Ortega y Gassets in seinem Notizbuch? So passend, so prophetisch. Er lockerte die Krawatte und zog das Jackett aus. Taxis fuhren vorbei, aber keines hielt. Sollte er nach Hause gehen? Um sich wie im Käfig zu fühlen und sich den Kopf zu zermartern, während er vom Schlafzimmer ins Arbeitszimmer hinunter oder durch das Wohnzimmer hindurch wieder ins Schlafzimmer hinaufginge und sich tausendmal fragte, was geschehen war? Warum wurde er wie ein Hase von unsichtbaren Jägern gehetzt? Man hatte ihm das Büro im Kongreß und den Dienstwagen und den Ausweis des Country Clubs genommen, wo er hätte Zuflucht suchen, ein kühles Getränk zu sich nehmen und von der Bar aus jene gepflegte Parklandschaft mit fernen Golfspielern betrachten können. Oder er hätte zu einem Freund gehen können, aber blieb ihm denn noch einer? Alle, die er angerufen hatte, waren ihm am Telefon erschrocken, reserviert, abweisend erschienen: er schadete ihnen mit seinem Wunsch, sie zu sehen. Er lief ohne Ziel, das zusammengefaltete Jackett unter dem Arm. Konnte dieser Cocktail bei Henry Dearborn die Ursache sein? Unmöglich. Auf der Sitzung des Ministerrats hatte der Chef beschlossen, er und Paíno Pichardo sollten teilnehmen, »um das Terrain zu sondieren«. Wie konnte er ihn bestrafen, weil er gehorcht hatte? Hatte Paíno Pichardo gegenüber Trujillo vielleicht angedeutet, er sei dem Gringo bei jenem Cocktail zu freundlich begegnet? Nein, nein, nein. Es konnte nicht sein, daß der Chef wegen einer solchen Nichtigkeit jemanden mit Füßen trat, der ihm mit mehr Hingabe, mit mehr Uneigennützigkeit gedient hatte als jeder andere.
Er lief, als hätte er sich verirrt, änderte alle paar Straßenzüge die Richtung. Die Hitze brachte ihn zum Schwitzen. Es war das erste Mal in sehr vielen Jahren, daß er sich durch die Straßen von Ciudad Trujillo treiben ließ. Eine Stadt, die er hatte wachsen und sich verändern sehen, von der kleinen beschädigten und zerstörten Ortschaft, in die der San-Zeno-Zyklon von 1930 sie verwandelt hatte, bis zu der modernen, schönen und wohlhabenden Metropole von heute, mit asphaltierten Straßen, elektrischem Licht und breiten Alleen, auf denen die
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