Das Fest des Ziegenbocks
fadenscheinig. Er muß sehr alt sein, zehn oder fünfzehn Jahre alt. Jemand klopft an die Tür. Sie sagt »Herein«, und es erscheint die Krankenschwester mit einem kleinen Teller voller halbmondförmig geschnittener Mango-stückchen und einem Apfel- oder Bananenbrei.
»Am Vormittag gebe ich ihm immer etwas Obst«, erklärt sie, ohne hereinzukommen. »Der Doktor sagt, er darf nicht über längere Zeit einen leeren Magen haben. Da er kaum etwas ißt, muß man ihm drei- oder viermal am Tag etwas geben. Abends nur ein wenig Brühe. Darf ich?« »Ja, kommen Sie herein.«
Urania betrachtet ihren Vater, seine Augen sind noch immer auf sie gerichtet; sie wenden sich nicht einmal dann der Krankenschwester zu, als diese, ihm gegenübersitzend, beginnt, ihm seinen Imbiß löffelweise zu
verabreichen. »Wo ist sein künstliches Gebiß?«
»Wir mußten es ihm rausnehmen. Da er so abgemagert ist, bekam er Zahnfleischbluten. Für das, was er ißt, Brühe, kleingeschnittenes Obst, Pürees und Zerkleinertes aus dem Mixer, braucht er es nicht.«
Eine ganze Weile schweigen sie. Wenn der Invalide geschluckt hat, nähert die Krankenschwester den Löffel dem Mund und wartet geduldig, daß der Alte ihn aufmacht. Dann gibt sie ihm mit viel Zartgefühl den nächsten Happen. Ob sie es immer so macht? Oder ist dieses Zartgefühl der Gegenwart seiner Tochter geschuldet? Bestimmt. Wenn sie mit ihm allein ist, wird sie mit ihm zanken, ihn zwicken, wie es die Kindermädchen mit den Kindern tun, die noch nicht sprechen können, wenn die Mutter sie nicht sieht. »Geben Sie ihm doch ein paar Happen«, sagt die Krankenschwester. »Das wünscht er sich. Nicht wahr, Don Agustín? Sie möchten, daß Ihre Tochter Ihnen den Brei gibt, nicht? Ja, ja, das hätte er gerne. Geben Sie ihm ein paar Happen, während ich runtergehe und das Glas Wasser hole, das ich vergessen habe.«
Sie reicht Urania den halbvollen Teller, die ihn mechanisch ergreift, und geht, ohne die Tür zu schließen. Nach einigen Augenblicken des Zögerns nähert Urania seinem Mund einen Löffel mit einer Mangoscheibe. Der Invalide, der noch immer nicht die Augen von ihr wendet, schließt den Mund und verzieht die Lippen wie ein garstiges Kind.
V
»Guten Morgen«, antwortete er.
Oberst Johnny Abbes hatte den allmorgendlichen Rapport mit Ideen des Vortags, Planungen und Vorschlägen auf seinen Schreibtisch gelegt. Er las sie gerne; der Oberst verlor keine Zeit mit unsinnigem Gefasel wie der vorherige Chef des Militärischen Geheimdienstes, General Arturo R. Espaillat, mit dem Spitznamen Navajita, Messerchen, Absolvent der Militärakademie von West Point, der ihn mit seinen strategischen Delirien langweilte. Ob Navajita wohl für den CIA arbeitete? Man hatte es ihm versichert. Aber Johnny Abbes konnte es nicht bestätigen. Wenn jemand nicht für den CIA arbeitete, dann der Oberst: er haßte die Yankees. »Kaffee, Exzellenz?«
Johnny Abbes trug Uniform. Obwohl er sich bemühte, sie
mit der Korrektheit zu tragen, die Trujillo forderte, konnte er nicht mehr tun, als ihm sein verweichlichtes, ungefälliges Äußere erlaubte. Er war eher klein geraten, der sich wölbende Bauch paßte zu seinem Schildkrötenhals, von dem sich sein vorspringendes Kinn abhob, das durch eine tiefe Spalte geteilt war. Auch seine Wangen waren schwabbelig. Nur die beweglichen Augen verrieten die Intelligenz dieser körperlichen Null. Er war fünfunddreißig oder sechsunddreißig Jahre alt, aber er wirkte wie ein alter Mann. Er war weder in West Point noch überhaupt auf einer Militärakademie gewesen; man hätte ihn nicht aufgenommen, denn er ermangelte jeder militärischen Physis und Berufung. Er war, was der Instrukteur Gittleman zu der Zeit, als der Wohltäter bei den marines war, seiner fehlenden Muskeln, seines übermäßigen Fetts und seines Hangs zum Intrigieren wegen »eine Kröte von Leib und Seele« nannte.Trujillo machte ihn über Nacht zum Oberst, als er in einer seiner plötzlichen Anwandlungen, die seine politische Laufbahn markierten, beschloß, ihn in der Nachfolge von Navajita zum Chef des SIM zu ernennen. Warum tat er das? Nicht wegen seiner Grausamkeit; eher seiner Kälte wegen: er war das eisigste Wesen, das er in diesem Land von
Menschen mit heißen Seelen und Körpern kennengelernt hatte. War es eine gute Entscheidung? In der letzten Zeit versagte er. Das Scheitern des Attentats gegen den Präsidenten Betancourt war nicht das einzige; er hatte sich auch in bezug auf die vermeintliche
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