Das Fest des Ziegenbocks
Treppe hinauf, langsam, um die Wiederbegegnung hinauszuzögern. Sie ist erleichtert, als sie ihn schlafend vorfindet: eingesunken in seinem Sessel, mit zusammengekniffenen Augen und offenstehendem Mund, während seine kümmerliche Brust sich regelmäßig hebt und senkt. ›Ein Häufchen Mann.‹ Sie setzt sich auf das Bett und betrachtet ihn. Forscht ihn aus, ergründet ihn. Nach Trujillos Tod haben sie auch ihn festgenommen. Weil sie ihn für einen der Trujillisten hielten, die sich mit Antonio de la Maza, General Juan Tomás Díaz und dessen Bruder Modesto, mit Antonio Imbert und den anderen verschworen hatten. Was für ein Schrecken und was für ein Verdruß, Papa. Daß ihr Vater ebenfalls Opfer dieser Treibjagd geworden war, hatte sie viele Jahre später erfahren, durch eine beiläufige Erwähnung in einem Artikel über die Ereignisse in der Dominikanischen Republik 1961. Aber sie hatte nie Einzelheiten gekannt. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte der Senator Cabral in den Briefen, die sie nicht beantwortete, diese
Erfahrung nie erwähnt. ›Daß jemand sich auch nur eine Sekunde lang vorstellte, du hättest vorgehabt, Trujillo zu ermorden, muß dir genauso weh getan haben wie der Umstand, daß du in Ungnade gefallen warst, ohne zu wissen, warum.‹ Hatte Johnny Abbes persönlich ihn verhört? Ramfis? Pechito Leon Estévez? Hatte man ihn auf den Thron gesetzt? Stand ihr Vater in irgendeiner Verbindung zu den Verschwörern? Es stimmte, er hatte übermenschliche Anstrengungen vollbracht, um Trujillos Gunst wiederzuerlangen, aber was bewies das? Viele Verschwörer waren Trujillo, noch Augenblicke bevor sie ihn umbrachten, in den Hintern gekrochen. Es konnte durchaus sein, daß Agustín Cabral als guter Freund von Modesto Díaz über das Komplott informiert war. War es nicht sogar Balaguer, wie manche behaupteten? Wenn der Präsident der Republik und der Minister der Streitkräfte auf dem laufenden waren, warum nicht ihr Vater? Die Verschwörer wußten, daß der Chef den Senator Cabral vor Wochen verstoßen hatte; es wäre nicht seltsam gewesen, wenn sie ihn als möglichen Verbündeten in Betracht gezogen hätten. Ihr Vater gibt dann und wann ein leises Schnarchen von sich. Wenn eine Fliege sich auf seinem Gesicht niederläßt, verscheucht er sie, ohne aufzuwachen, mit einer Kopfbewegung. Wie hast du erfahren, daß sie ihn umgebracht hatten? Am 30. Mai 1961 war sie schon in Adrian. Sie hatte begonnen, die Betäubung abzuschütteln, die Erschöpfung, die sie von der Welt und von sich selbst trennte und in einem schlafwandlerischen Zustand verharren ließ, als die Sister, die sie betreute, in das Zimmer trat, das Urania mit vier Kommilitoninnen teilte, und ihr die Schlagzeile der Zeitung zeigte, die sie in der Hand hielt: »Trujillo killed.« »Ich leih sie dir«, sagte sie. Was hast du gefühlt? Sie würde schwören, daß sie nichts fühlte, daß die Nachricht an ihr abglitt, ohne in ihr Bewußtsein zu dringen, wie alles, was sie in ihrer Umgebung sah und hörte. Es ist möglich, daß du die Nachricht nicht mal gelesen, daß du dich mit der Schlagzeile begnügt hast. Dagegen erinnert sie sich, daß Tage oder Wochen später in einem Brief von Sister Mary Einzelheiten über dieses Verbrechen standen, über das Eindringen der caKés in die Schule, um den Bischof Reilly herauszuholen, und über das Chaos und die Ungewißheit, in der sie lebten. Aber nicht einmal dieser Brief von Sister Mary änderte etwas an ihrer tiefen Gleichgültigkeit allem Dominikanischen und den Dominikanern gegenüber, von der sie erst Jahre später jener Kursus über die Geschichte der Antillen befreite. Bedeutet die plötzliche Entscheidung, nach Santo Domingo zu kommen, deinen Vater zu besuchen, daß du geheilt bist? Nein. Sonst hättest du Freude, Rührung empfunden bei der Wiederbegegnung mit Lucinda, die so an dir hängt, Gefährtin der Nachmittags- und Vormittagsvorstellungen im Olimpia und im Elite, an den Stranden oder im Country Club, und du hättest Mitleid gehabt mit dem offensichtlichen Mittelmaß ihres Lebens und damit, daß sie nicht die geringste Hoffnung hat, daß sich etwas daran ändert. Es hat dich nicht gefreut, gerührt oder geschmerzt. Es hat dich gelangweilt, weil diese Gefühligkeit und dieses Selbstmitleid dich abstoßen.
›Du bist ein Eiszapfen. Wie eine Dominikanerin wirkst du nicht gerade. Eher wirke ich wie ein Dominikaner.‹ So was, jetzt erinnerte sie sich an Steve Duncan, ihren Kollegen bei der Weltbank. 1985
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