Das Fest
stand »Jingle Bells« auf dem Programm, in einer sehr dynamischen, lauten Version, die zweifellos von all der Aufregung ringsumher inspiriert war. Die Chorleiterin bedeutete den Nachbarn, sie mögen doch mitsingen, was diese auch mit großem Vergnügen taten. Bei den ersten Takten von »Stille Nacht« war die Zahl der Sänger und Sängerinnen schon auf mindestens dreißig angeschwollen. Die Chormitglieder trafen meistens den richtigen Ton, während sich die Nachbarn nicht einmal darum bemühten. Ihnen kam es vor allem auf die Lautstärke an, denn der gute alte Luther sollte alles genau hören und sich vor Unbehagen winden.
Nach zwanzig Minuten war Nora mit den Nerven am Ende und ging unter die Dusche. Luther setzte sich in seinen Ruhesessel und versuchte, eine Zeitschrift zu lesen, aber jedes Lied erscholl noch lauter als das vorhergegangene. Luther kochte vor Wut und fluchte vor sich hin. Als er noch einmal hinausspähte, war der ganze Rasen von Menschen bevölkert, die lächelnd sein Haus anbrüllten.
Kurz darauf stimmten sie »Frosty der Schneemann« an. Luther ging in sein Arbeitszimmer im Keller und holte den Kognak aus der Schublade.
8
I n den achtzehn Jahren, die Luther nun schon in der Hemlock Street wohnte, hatte sich seine morgendliche Routine nicht verändert. Er stand um sechs Uhr auf, streifte Morgenmantel und Pantoffeln über, setzte Kaffee auf, verließ das Haus durch die Garagentür, ging die Auffahrt hinunter und holte die Gazette , die eine Stunde zuvor von Milton, dem Zeitungsjungen, ausgeliefert worden war. Luther konnte sicher sein, dass die Anzahl der Schritte von der Kaffeemaschine bis zur Zeitung nie um mehr als drei variierte. Zurück im Haus trank er eine Tasse Kaffee mit einer Spur Sahne, las dabei den Sportteil, dann den Lokalteil, den Wirtschaftsteil und stets als Letztes die nationalen und internationalen Nachrichten. Nach der Hälfte der Todesanzeigen füllte er eine weitere Tasse mit Kaffee — jeden Tag dieselbe, lavendelfarbene Tasse, plus zwei Stück Zucker — und brachte sie seiner liebenden Gattin.
Am Morgen nach der musikalischen Darbietung in seinem Vorgarten schlurfte Luther im Halbschlaf die Auffahrt hinunter und wollte gerade die Gazette aufheben, als er aus den Augenwinkeln etwas merkwürdig Fremdes wahrnahm. Mitten in seinem Rasen steckte ein Schild, das in großen schwarzen Buchstaben FREIHEIT FÜR FROSTY forderte. Die Ränder eines weißen Fotokartons waren rotgrün bemalt, und in der Mitte prangte eine Zeichnung — Frosty, der in einem Keller in Ketten lag. Keine Frage, wessen Keller gemeint war. Entweder war es das schlechte Machwerk eines Erwachsenen, der nicht wusste, was er mit seiner Zeit anfangen sollte, oder das ziemlich gute Bild eines Kindes, dem die Mutter beim Malen über die Schulter gesehen hatte.
Plötzlich hatte Luther das Gefühl, beobachtet zu werden, also steckte er sich lässig die Gazette unter den Arm, tat so, als hätte er nichts bemerkt, und schlenderte zurück ins Haus. Schimpfend schenkte er sich eine Tasse Kaffee ein, fluchend setzte er sich auf seinen Stuhl. Er konnte sich weder auf den Sport- noch auf den Lokalteil konzentrieren, und sogar die Todesanzeigen vermochten nicht seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Dann wurde ihm klar, dass Nora das Schild besser nicht zu Gesicht bekam. Sie würde sich noch viel mehr Gedanken darüber machen als er.
Jeder neue Angriff auf sein Recht, zu tun, was ihm gefiel, bestärkte Luther nur noch in seiner Entschlossenheit, Weihnachten zu ignorieren. Aber er sorgte sich um Nora. Ihn würden sie niemals kleinkriegen, doch bei ihr war er da nicht so sicher. Wenn sie annehmen musste, dass nun auch noch die Nachbarskinder protestierten, würde sie vielleicht zusammenbrechen.
Luther schlug blitzschnell zu — schlich durch die Garage, um die Ecke, lief vorsichtig über den Rasen, weil das Gras so gut wie gefroren war, zog mit einem Ruck das Schild aus dem Boden und warf es in die Abstellkammer. Er wollte sich später darum kümmern.
Nachdem er Nora ihre Tasse Kaffee gebracht hatte, ließ er sich wieder am Küchentisch nieder und versuchte vergebens, sich auf die Gazette zu konzentrieren. Er war einfach zu wütend. Außerdem hatte er eiskalte Füße. Also zog er sich an und fuhr zur Arbeit.
Im Büro war er einmal dafür eingetreten, dass die Firma von Mitte Dezember bis nach dem ersten Januar Betriebsferien machen solle. »Während dieser Zeit arbeitet doch ohnehin niemand« — so hatte damals auf der
Weitere Kostenlose Bücher