Das Fest
Während Luther im Krankenwagen saß, auf die Straße hinaus blickte und den gaffenden Mob zu ignorieren versuchte, der zweifelsohne eine wahre Freude an seiner Schmach hatte, verspürte er lediglich Erleichterung. Seine Rutschpartie über das Dach war zwar kurz, aber dafür umso grauenhafter gewesen. Er konnte von Glück sagen, dass er momentan überhaupt bei Bewusstsein war.
Sollten sie doch glotzen. Sollten sie ruhig gaffen. Er hatte zu große Schmerzen, als dass ihn dies noch gekümmert hätte.
Nora trat näher, um ihn zu inspizieren. Sie stellte fest, dass es sich bei dem Feuerwehrmann um Kistler und bei einem der Sanitäter um Kendall handelte, jene beiden netten jungen Männer, die Luther vor ein paar Wochen Christstollen für den Spielzeugfonds hatten verkaufen wollen. Sie dankte ihnen für ihre Hilfe.
»Sollen wir Sie ins Krankenhaus bringen?«, fragte Kendall.
»Als reine Vorsichtsmaßnahme«, fugte Kistler hinzu.
»Nein, danke«, erwiderte Luther mit klappernden Zähnen. »Es ist ja nichts gebrochen.« Im Augenblick kam es ihm allerdings so vor, als hätte er keinen heilen Knochen mehr im Körper.
Ein Polizeiwagen raste heran und parkte mitten auf der Straße, selbstverständlich mit eingeschaltetem Blaulicht. Treen und Salmo stiegen aus, stolzierten durch die Menge und versuchten, sich einen Überblick zu verschaffen.
Frohmeyer, Becker, Kerr, Scheel, Brixley, Kropp, Galdy, Bellington — sie alle traten näher und bildeten einen Halbkreis um Luther und Nora. Auch Spike war dabei. Während Luther seine Wunden leckte und die banalen Fragen der Uniformierten beantwortete, drängten sich praktisch sämtliche Bewohner der Hemlock Street heran, um besser sehen zu können.
Nachdem Salino die Geschichte im Großen und Ganzen begriffen hatte, sagte er ziemlich laut: »Frosty? Ich dachte, Sie würden dieses Jahr kein Weihnachten feiern, Mr. Krank. Zuerst leihen Sie sich einen Baum, und jetzt das.«
»Was geht hier eigentlich vor, Luther?«, rief Frohmeyer. Es war die Frage, die sich alle stellten, und deren Antwort alle interessierte.
Nach einem Blick auf Nora war Luther klar, dass sie keinen Ton sagen würde. Die Erklärungen waren seine Sache.
»Blair kommt nach Hause«, stieß er hervor und rieb seinen linken Knöchel.
»Blair kommt nach Hause«, wiederholte Frohmeyer laut, und die Neuigkeit lief wie eine Welle durch die Menge. Gleichgültig, was die Nachbarn momentan von Luther halten mochten — Blair wurde von allen vergöttert. Sie hatten sie aufwachsen sehen, voller Stolz zur Universität geschickt und jedes Jahr im Sommer auf ihre Heimkehr gewartet. Blair hatte früher oft auf die kleineren Kinder in der Hemlock Street aufgepasst. Da sie ein Einzelkind war, behandelte sie die anderen immer wie ihre Familienmitglieder. Sie war für alle wie eine große Schwester.
»Und sie bringt ihren Verlobten mit«, fügte Luther hinzu. Auch diese Nachricht verbreitete sich in Windeseile unter den Zuschauern.
»Wer ist Blair?«, fragte Salino in einem Tonfall, als sei er bei der Mordkommission und auf der Suche nach Anhaltspunkten für ein Kapitalverbrechen.
»Meine Tochter«, sagte Luther. »Sie ist vor einem Monat mit dem Friedenskorps nach Peru gegangen und wollte erst gegen Ende des nächsten Jahres zurückkommen. Das dachten wir zumindest. Und dann rief sie uns heute um elf Uhr aus Miami an und sagte, dass sie als große Überraschung zu Weihnachten nach Hause käme und außerdem ihren Verlobten mitbrächte, irgendeinen Arzt, den sie da unten kennen gelernt hat.« Nora stellte sich an seine Seite und hielt ihn am Ellbogen.
»Und sie rechnet damit, bei euch einen Weihnachtsbaum zu sehen?«, fragte Frohmeyer.
»Ja.«
»Und einen Frosty auf dem Dach?«
»Natürlich.«
»Und was ist mit der alljährlichen Heiligabendparty der Kranks?«
»Die erwartet sie auch.«
Die Menge schob sich langsam noch näher, während Frohmeyer die Situation analysierte. »Wann wird Blair hier sein?«, erkundigte er sich schließlich.
»Die Maschine landet um sechs.«
»Um sechs?«
Überall wurde auf Armbanduhren gestarrt. Luther rieb sich den anderen Knöchel. In seinen Füßen kribbelte und brannte es — ein gutes Zeichen. Das Blut begann wieder zu zirkulieren.
Vic Frohmeyer trat einen Schritt zurück und ließ den Blick über seine Nachbarn schweifen. Er räusperte sich, reckte das Kinn vor und sagte laut: »In Ordnung, Leute, der Plan sieht folgendermaßen aus:
Hier bei den Kranks wird gleich eine Party
Weitere Kostenlose Bücher