Das Feuer bringt den Tod: Thriller (German Edition)
diese Tarnmaßnahme nicht gebraucht hätte. Güstrin war nicht Hamburg. Auf der gesamten Strecke von der Hauptstraße bis vor die mit Erika Saalfelds Slogan beschmierte Mauer um den Vorgarten sah Katja kein einziges Fenster, hinter dem noch Licht brannte. Ausgezeichnet. Trotzdem hielten sie sich an den abgesprochenen Plan und marschierten festen Schrittes durch das Gartentor. Wenn nun doch irgendwo ein Nachbar unter Schlaflosigkeit litt und zufällig aus seinem Schlafzimmerfenster oder von seinem Balkon aus auf die Straße hinausblickte, wäre jede Form von Heimlichtuerei noch verdächtiger. Eine gewisse Unterstützung erfuhren sie auch durch das Wetter: Der Himmelwar mit dichten Wolken verhangen, hinter denen der Mond nur noch als schwacher Fleck zu erahnen war.
Sie gingen durch den Garten zur Rückseite des Hauses. Auf der Veranda boten ihnen ein Bambuszaun von der einen und eine Hollywoodschaukel von der anderen Seite gute Deckung. Glasscherben knirschten unter ihren Sohlen auf den Fliesen. Das Wohnzimmerfenster hatte der Hitze, die sich beim Brand entwickelt hatte, nicht standgehalten. Das Absperrband, das die Polizei in Form eines Kreuzes vor den leeren Rahmen gespannt hatte, stellte kein ernstzunehmendes Hindernis dar, ebenso wenig wie die letzten Reste der Scheibe, die aus dem Kitt ragten.
Im Haus roch es aufdringlich nach Ruß und Moder. Bernd schaltete seine Minimaglite an und schirmte den Lichtstrahl der fingerlangen Taschenlampe mit der flachen Hand etwas ab. Katja setzte auf noch modernere Technik: eine App ihres Smartphones, wobei die Leistung des Displays nicht mit der der Maglite mithalten konnte. Sie reichte aber sehr wohl aus, um sich zu orientieren.
»Gleich nach oben?«, wisperte Bernd.
»Ja«, flüsterte sie zurück.
Als würden sie in ein verbotenes Heiligtum vordringen, schlichen sie auf den Flur. Katja hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als es Bernd zu verraten, aber seit dem Augenblick, in dem sie durchs Fenster gestiegen waren, plagte sie das unheimliche Gefühl, dass sie nicht allein im Haus waren. Das war natürlich Unfug, ein Streich, den ihr ihre Nerven spielten. Wer sollte außer ihnen denn hier sein? Ein besonders eifriger Spurensicherer, der dringend Überstunden machen wollte? Sie wusste allerdings, was dieses Gefühl in ihr auslöste. Es hatte einen ähnlichen Ursprung wie ihre Stimmung bei der Führung durch das Kernkraftwerk, nur dass es hier noch um ein Vielfaches verstärkt war: Trotz des Zustands des Hauses – der vom Löschwasser gewellten Überbleibsel der Tapeten, der Ascheschichten, in die sichLäufer und Teppiche verwandelt hatten, des allgegenwärtigen Rußes – erwartete sie, dass jeden Moment Frieder vor ihr stand. Dass sie ihn nach ihr rufen hörte. Dass sich seine Hand um ihre Schultern legte. Dass sie seinen Atem über ihr Gesicht streifen spürte. Sie biss die Zähne zusammen und wiederholte stumm immer wieder einen einzigen Satz. »Nur dumme Menschen glauben an Geister.«
Sie ging vor Bernd die Treppe hinauf und trat durch die erste Tür rechts. Sie leuchtete einmal mit dem Telefondisplay durch den Raum. Ein Drehstuhl, dessen Sitzpolster weggeschmort war. Ein verkohlter Schreibtisch. Ja, das war Frieders Arbeitszimmer. Aber wo war der alte Schrank?
»Ist es hier?«, drängelte Bernd.
Sie schüttelte den Kopf. Es war eine Schnapsidee gewesen, hierherzukommen. Sie blieb unschlüssig stehen, während Bernd zurück auf den Flur verschwand. Irgendwo aus dem Erdgeschoss kam ein leises Knarzen, wie es alte Häuser von sich gaben, wenn das Holz in ihnen arbeitete, doch für Katja hörte es sich fast so an wie ein unterdrücktes, spöttisches Keckern. Vielleicht war sie nicht einmal halb so schlau, wie sie immer dachte, und vielleicht waren die Menschen, die an Geister glaubten, doch nicht so dumm.
»Katja«, kam es leise aus dem Nebenraum. »Da ist er.«
Im Schlafzimmer? Das konnte gut sein. Sie war seit Jahren nicht mehr hier oben gewesen. Auch wenn dieser Ort in ihrer Erinnerung eingefroren und unveränderlich war, hatte Frieder doch weiter sein eigenes, undurchschaubares Leben gelebt. Einen Schrank – aus welchen Gründen auch immer – von einem Zimmer in ein anderes zu räumen war nun wirklich nicht das ungewöhnlichste Werk, das er in seinem Leben ohne ihr Wissen verrichtet hatte.
Auf der Schwelle zum Schlafzimmer verharrte sie dennoch, weil sie eine niederschmetternde Erkenntnis traf. Das hier war nicht nur der Ort, an dem ihr Onkel gelebt hatte.
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