Das Feuer der Wüste
nicht in einem leblosen Stein. Die Kraft muss aus dem Inneren der Menschen kommen. Sie müssen die Verantwortung für ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Die Ahnen werden ihnen nicht dabei helfen.«
»Aber die SWAPO .«
»Vielleicht die SWAPO , vielleicht jeder an dem Ort, an dem er sich gerade befindet. Die Schwarzen können von den Weißen viel lernen. Das gilt auch umgekehrt. Fest steht nur, dass ein Stein eben nur ein Stein und kalt ist, auch wenn in seinem Inneren ein Feuer leuchtet.«
Der Alte verschränkte die Arme vor der Brust. »Gehen Sie jetzt, Meisie. Das ist alles, was ich weiß.«
Ruth stand auf. »Ich danke Ihnen sehr.«
Der Mann nickte. Als Ruth schon einige Schritte gegangen war, rief er ihr hinterher: »Wissen Sie, was merkwürdig ist, kleine Miss?«
»Nein.«
»Dass seit Jahrzehnten niemand mehr nach dem ›Feuer der Wüste‹ gefragt hat. Und heute sind Sie schon die Zweite.«
»Was?« Ruths Aufmerksamkeit war geweckt. Ihr Herz raste. »Waren vor mir schon Leute bei Ihnen?«
Der Alte nickte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, griff Ruth nach dem Stein an ihrer Kette. Die untergehende Sonne schien ihr direkt ins Gesicht. Sie sah auf den roten Feuerball und verspürte plötzlich ein Kribbeln in der Hand, die den Stein hielt. Und wieder tauchten Gesichter vor ihr auf.
Sie sah, wie die junge Frau schwanger auf den grünen Hügel zulief. Sie hatte eine Hand schützend auf ihren Bauch gelegt, in der anderen trug sie einen Weidenkorb. Schnellen Schrittes näherte sie sich einer Viehtreiberhütte, die sich am Fuße des Hügels befand. Kurz davor wandte sie sich nach allen Seiten um, dann betrat sie die Hütte.
Auf einer Strohmatratze lag ein schwarzer Mann, der aus einer Wunde am Bein heftig blutete. Er wälzte sich auf der Erde hin und her, seine Stirn war glühend heiß vor Fieber. Die junge weiße Frau nahm eine Wasserflasche aus ihrem Korb, versuchte, dem Kranken das Wasser einzuflößen. Dann bedeckte sie seine Stirn mit einem kühlen Lappen, versorgte die Wunde an seinem Bein, wobei der Mann vor Schmerzen laut aufschrie. Sie löffelte ihm ein wenig Suppe in den Mund, wechselte das Tuch auf seiner Stirn und gab ihm zu trinken. Plötzlich hielt sie inne. Pferdegetrappel war zu hören. Die Frau äugte aus einem glaslosen Seitenfenster der Hütte und sah ein paar Reiter näher kommen. Der Sand, den sie aufwirbelten, war so dicht, dass die Frau die Reiter nur als bloße Schemen wahrnahm. Sie packte den Korb und steckte alles ein, was von ihrer Anwesenheit zeugte.
»Sie kommen?«, fragte der Mann.
Die Frau nickte.
Vor Anstrengung zitternd bat er sie mit einer Handbewegung zu sich. Er deutete auf eine kleine Öffnung in der Wand, in der ein Ziegelstein fehlte. »Nehmen Sie das Päckchen da raus. Verstecken Sie es gut. Es ist ein Heiligtum. Der Inhalt des kleineren Päckchens ist für Sie. Tragen Sie den Stein. Er wird Sie schützen.«
Die Frau tat, was er gesagt hatte, verbarg den in einen Lappen gehüllten Gegenstand unter ihrem Rock, den anderen in ihrem Mieder.
»Jetzt gehen Sie. Schnell.«
»Aber ich kann Sie doch hier nicht alleinlassen!«, begehrte die Frau auf.
Der schwarze Mann verzog sein Gesicht. »Wollen Sie mit mir sterben? Sie und Ihr Baby? Gehen Sie! Los! Machen Sie, dass Sie wegkommen.«
Die Frau war hin- und hergerissen, doch dann malte sie dem Mann ein Kreuzzeichen auf die Stirn. »Gott schütze Sie«, sagte sie und fügte hinzu: »Verzeihen Sie, dass ich mein Kind retten will.«
»Sie haben mehr für mich getan als sonst ein Mensch«, erwiderte der Mann. »Es gibt keinen Grund, dass Sie sich etwas vorwerfen. Aber bitte hüten Sie das Päckchen. Lassen Sie nicht zu, dass um seinetwillen immer wieder Blut fließt.«
Und dann war das Bild verschwunden. Ruth zitterte. Ihr war plötzlich kühl. Sie öffnete die Augen und sah, dass die Sonne inzwischen untergegangen war. Die Bank vor ihr war leer, der alte Mann verschwunden.
In der Nacht konnte sie nicht schlafen. Sie holte sich aus dem Kühlschrank des Schützenhauses eine Flasche Bier, warf Geld in die dafür bestimmte Dose und ging hinaus. Sie fand eine Bank hinter dem Haus, setzte sich dorthin, trank das Bier in langsamen Schlucken und dachte über die seltsamen Worte des alten Mannes nach. Die Kraft muss in den Menschen wohnen, nicht in Dingen, die sie verehren. Steine sind tot, und in Toten gibt es keine Kräfte. Die Kräfte, die scheinbar in ihnen wirken, gibt der Mensch ihnen. Ruth hörte die Worte klar und
Weitere Kostenlose Bücher