Das Feuer der Wüste
zurück, las jedes Wort, betrachtete jedes Bild, doch vergebens. Hier in Lüderitz hatte niemand von einer Frau namens Margaret Salden Notiz genommen.
Enttäuscht schielte Ruth zu Horatio hinüber, der völlig versunken in der Chronik der Deutschen Diamantengesellschaft las. Eifrig machte er sich Anmerkungen, wühlte in seinen Unterlagen und verglich Daten.
»Was ist? Haben Sie was?«, fragte Ruth.
Horatio schüttelte den Kopf, doch Ruth sah das Jagdfieber in seinen Augen glimmen und glaubte ihm nicht.
»Ich muss auf die Toilette«, sagte sie, und Horatio nickte.
Der Wachmann verlangte, dass Ruth sich schriftlich abmeldete, und kontrollierte auch ihren Pass, als sie von der Toilette zurückkehrte.
Dann schlenderte sie an einer Regalreihe vorbei, zog da und dort eine Akte heraus. Sie hoffte, ganz durch Zufall auf etwas zu stoßen, das ihr weiterhalf. Sie stutzte. An einer Stelle des Regals fehlte ein Ordner. Ruth erkannte am Staub, dass er noch vor Kurzem, vor sehr kurzer Zeit, hier gestanden haben musste. Sie spähte durch die Lücke – und sah direkt auf Horatios Schreibtisch. Doch wo war der Historiker?
Ruth stellte sich auf die Zehenspitzen und glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Horatio hockte auf dem Boden unter seinem Schreibtisch, auf den Knien einen verstaubten Ordner, neben sich die Pappkiste, die Ruth für einen unkonventionellen Papierkorb gehalten hatte. Was tat er jetzt? Ruth hielt die Luft an. Horatio sah sich nach allen Seiten um, dann riss er zwei Blätter aus dem Ordner, faltete sie in Windeseile zusammen und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden.
Ruth sprang hinter dem Regal hervor und erwischte Horatio noch auf dem Boden. »Was tun Sie hier?«, fragte sie.
»Oh, mein Stift. Er ist mir heruntergefallen.«
»Sonst nichts?«
»Nein, sonst nichts. Was sollte sein?«
»Und in dem Pappkarton?«
Horatio stieß mit der Hand leicht gegen die Kiste. »Mit dem Papierkorb? Was ist damit?«
Ruth atmete tief ein und aus. »Nichts«, sagte sie dann. »Es ist nichts. Ich bin wohl nur ein bisschen nervös, weil der Wachmann so feindselig ist.« Doch im Stillen beschloss sie, nun doppelt auf der Hut zu sein. Horatio verbarg etwas vor ihr, etwas sehr Wichtiges, über das er nicht sprechen wollte. Auf welcher Seite stand der Schwarze eigentlich wirklich? Konnte sie ihm vertrauen? War er ihr Freund, wie er immer behauptete, oder zählte er zu ihren Feinden?
Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Es ist gleich Mittag. Mir schwirrt der Kopf. Ich glaube nicht, dass ich in den Ordnern noch etwas finde. Zumindest nicht in der Chronik von Lüderitz.«
»Heißt das, Sie wollen gehen?«
Ruth nickte und kniff die Augen leicht zusammen. »Ich habe Hunger.«
Im selben Augenblick erschien der Wachmann, in der Hand seine Blechbrotbüchse, und komplimentierte sie aus dem Lesesaal hinaus. »Wir machen um drei wieder auf, falls Sie noch immer nicht fertig sind.«
Horatio seufzte theatralisch, dann räumte er seine Sachen zusammen.
»Wollen wir etwas essen gehen?«, fragte er, als sie vor dem Gebäude in der Sonne standen.
Ruth suchte in ihrer Tasche nach der Sonnenbrille. »Wie? Äh, nein. Ich habe noch keinen Hunger.«
»Aber eben sagten Sie es doch.«
»Jetzt aber nicht mehr. Ich will nichts essen.« Sie setzte die Sonnenbrille auf und stapfte davon, ohne sich nach Horatio umzusehen. Sie hörte nur noch, wie er ihr nachrief: »Wir sehen uns dann später.«
Ruth hob eine Hand zum Gruß und beschleunigte ihre Schritte. Sie rannte fast, als wolle sie vor Horatio fliehen. Sie musste jetzt allein sein, musste ihre Gedanken ordnen. Und ihr fehlte Bewegung. Schon immer hatte sie am besten nachdenken können, wenn sie in Bewegung war.
Sie eilte durch die Stadt, die sich dicht an einen riesigen Granitfelsen schmiegte, als suche sie Schutz vor den Wellen und Stürmen des Atlantischen Ozeans, vor dessen Küste der kalte Benguelastrom floss, der die Stadt jeden Morgen in Nebel hüllte. Ruth eilte durch die Straßen, ohne etwas zu sehen. Sie lief an den Fischhändlern vorbei, die Austern und Langusten verkauften, den Berg hinauf zur Felsenkirche.
Ruth setzte sich auf eine Bank, betrachtete kurz die prächtigen Buntglasfenster, doch sie fand auch hier keine Ruhe. Was soll ich hier?, fragte sie sich. Warum fahre ich nicht wirklich zurück nach Salden’s Hill? Was habe ich denn bisher erreicht? Nichts. Gar nichts. Mein Großvater ist tot, meine Großmutter verschollen, angeblich mit der Seele der Nama. Ich habe einen
Weitere Kostenlose Bücher