Das Feuer der Wüste
zog sie an sich, küsste sie, küsste auch ihre Stirn und ihr Haar. Dann nahm er Ruths Hand, hob sie in die Höhe. »Dreh dich mal.«
Ruth tat, was er gesagt hatte, und drehte sich vor ihm im Kreis. Sie trug eine neue Siebenachtelhose aus dunkelblauem Stoff, eine blau-weiß gepunktete Bluse und neue weiße Ballerinas.
»Du siehst zauberhaft aus. Eine ungekünstelte Farmerin mit Stil und Geschmack. Hach, davon habe ich lange Jahre geträumt! Komm, setz dich zu mir.«
Ruth strahlte. Wie schön sie sich heute wieder fühlte! Vergessen war, dass sie vorhin bei der Anprobe gefunden hatte, ihre Beine sähen in der Hose wie griechische Säulen aus – dazu gemacht, ganze Häuser zu stützen. Und sie dachte auch nicht mehr daran, dass die Ballerinas schon jetzt, nachdem sie kaum einen halben Kilometer damit gelaufen war, drückten und in spätestens einer Stunde unerträglich sein würden.
»Wie hast du geschlafen?«, fragte Henry. »Ich habe von dir geträumt. Es war wundervoll. Wir lagen Haut auf Haut, Herz auf Herz, und dein Haar fiel wie ein Zelt über uns.«
»Ja«, erwiderte Ruth zerstreut. Sie musste daran denken, dass Horatio die ganze Nacht lang neben ihr gesessen hatte, um zu verhindern, dass sie an ihrem eigenen Erbrochenen erstickte. Dann fiel ihr der Junge mit der Kette ein. »Ich habe einen Hinweis auf meine Großmutter gefunden«, sprudelte es aus ihr heraus. »Es gibt da einen Jungen, einen schwarzen Namajungen, der trug eine Gemme aus Elfenbein um den Hals. Die Gemme zeigt das Bildnis meiner Großmutter.«
»Wo war das? Wo ist der Junge jetzt? Wie sah er aus? Wo lebt er? Lebt deine Großmutter auch dort? Wie kommt man da hin?« Henry schien wie vom Schlag getroffen und konnte doch nicht aufhören, Fragen zu stellen.
Ruth schüttelte sich. »Wo der Junge jetzt ist, weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich noch irgendwo in der Stadt. Schließlich ist morgen Altstadtfest. Den Weg zu seinem Stamm hat er beschrieben.« Sie lachte verlegen. »Na ja, beschrieben ist übertrieben. Von hier zur Hottentotsbai, von dort Richtung Awasiberge und an der nächsten Wasserstelle abbiegen.« Sie stutzte, sagte dann mehr zu sich selbst: »Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn ich den Jungen gleich zu seinem Stamm begleitet hätte.«
Als sie aufsah, nahm Henry ihr Gesicht in seine Hände. »Nein, Liebes, du hast richtig gehandelt. So lange hast du darauf gewartet, deine Großmutter zu treffen, da kommt es auf einen Tag mehr oder weniger wirklich nicht an. Ich aber habe dich erst gestern gefunden.«
Ruth lachte. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es sogar besser zu warten. Die Eingeborenen lieben es nicht, überrascht zu werden.«
»Nach links oder nach rechts?«
Ruth schüttelte verwundert den Kopf. »Was meinst du?«
»Die Wasserstelle hinter den Awasibergen. Dort sollst du abbiegen – nach links oder nach rechts?« Henry hatte auf einmal ein geschäftstüchtiges Gesicht aufgesetzt und betrachtete Ruth wie eine Klientin.
»Ist das für dich so wichtig?«, fragte sie.
»Aber ja. Ich denke, ich sollte dich begleiten, wenn du dorthin fährst. Du willst doch dorthin, oder? Morgen wahrscheinlich?«
»Ja. Nein. Ich weiß nicht.«
»Was ist los mit dir, Ruth?«
Sie legte eine Hand an ihre Stirn und seufzte. »Ich weiß wirklich noch nicht, wann ich in die Namib aufbreche. Ich bin sehr gern mit dir zusammen, aber wenn ich vielleicht das erste Mal im Leben auf meine Großmutter treffe, wäre ich lieber allein.«
Ruth verschwieg, dass sie keinesfalls allein sein würde, sondern den Ausflug in die Namib mit Horatio plante. Davon nämlich sollte Henry Kramer nichts wissen. Er sollte nicht schlecht von ihr denken. Wer wusste schon, in welchem Zustand sie ihre Großmutter antreffen würden, wer wusste, ob Henry ihr nicht am Ende doch unterstellen würde, sie sei hinter dem Diamanten her, jetzt, da er wusste, dass ihre Farm am Ende war?
»Ich verstehe dich gut.« Henry griff verständnisvoll nach ihrer Hand. »Ich könnte unweit des Dorfes auf dich warten.«
»Ja, vielleicht.« Ruth schwieg.
»Du wirkst zerstreut«, stellte Henry fest und streichelte ihr über die Hand.
»Nein, nicht zerstreut, nur nachdenklich. Weißt du, in den letzten zwei Wochen ist so unheimlich viel passiert. Ich habe wahnsinnig viele Dinge erfahren. Ich muss diese Dinge in meinem Kopf erst ordnen, ehe ich entscheiden kann, wie der nächste Schritt aussieht, verstehst du?«
»Ich hoffe sehr, du bist vorsichtig bei allem, was du
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