Das Feuer der Wüste
Lenkmanöver ins Schleudern, aber Ruth hatte ihn gleich wieder fest im Griff.
Der Junge schwieg, betrachtete sie aber die ganze Zeit von der Seite.
»Was ist?«, fragte sie schließlich. »Warum starrst du mich die ganze Zeit so an?«
»Die weiße Frau hat gesagt, wenn Sie kommen, geschieht das Wunder, auf das wir alle so lange gewartet haben. Sie werden die Seele der Nama befreien.«
»Versprich dir von diesen Worten bloß nicht zu viel. Ich bin aus ganz anderen Gründen hier.«
»Ich weiß, dass die weiße Frau recht hat. Aber ich weiß auch, dass Sie es noch nicht wissen – so, wie Sie ganz vieles nicht wissen, das eigentlich auf der Hand liegt.«
»Na, dann habe ich ja richtig Glück, dass ich dich getroffen habe.«
Der Junge schüttelte energisch den Kopf. »Der Sehnsuchtsstein.«
»Ach ja.« Ruth griff nach dem Stein und spürte wieder dieses Kribbeln. »Der war es also, der mich hierher geführt hat.«
»Ganz genau.«
Ruth warf einen spöttischen Blick auf Charly und war versucht, ihm zu sagen, was sie vom Aberglauben der Schwarzen hielt, doch der deutete in diesem Augenblick nach vorn.
Ruth bremste so abrupt, dass der Wagen erneut ins Schleudern kam und sich einmal um die eigene Achse drehte. Sie starrte durch die verdreckte Windschutzscheibe, als könne sie ihren Augen nicht trauen.
Vor ihr stand eine Frau, wie aus den Sanddünen gewachsen und umgeben von einem Kranz aus kniehohem Steppengras. Obwohl das Alter ihr hüftlanges Haar weiß gefärbt hatte, stand sie aufrecht. Nur der Wind spielte ein wenig mit den Strähnen. Die Frau lächelte und breitete langsam ihre Arme aus.
»Träume ich?«, fragte Ruth. »Siehst du, was ich da gerade sehe?«
»Aber natürlich sehe ich es«, erwiderte Charly. »Das ist die weiße Frau. Sie ist gekommen, um Sie willkommen zu heißen.«
Ruth stieg aus dem Wagen und ging wie von Fäden gezogen auf die weiße Frau zu. Einen Augenblick lang fragte sie sich, was sie sagen sollte. »Hallo, Großmutter«, oder: »Guten Tag, weiße Frau«? Die aber wartete nicht ab, was Ruth sagen wollte, sondern nahm sie einfach in die Arme, drückte sie an sich. Ruth fühlte sich in ihren Armen so geborgen wie in ihrem Bett auf der Farm. Der Duft, den die Frau verströmte, war so vertraut und wohlig, dass sich Ruth wünschte, niemals wieder von ihr wegzumüssen. Es war, als habe sie endlich ein menschliches Zuhause gefunden. Das Zuhause, nach dem sie zeit ihres Lebens gesucht hatte.
Plötzlich kamen ihr die Worte wie von selbst über die Lippen. »Da bist du ja. Da bist du ja endlich.«
Und die Frau lachte leise und sagte: »Und da bist du. Da bist du endlich.« Dann nahm sie Ruth an der Hand, strich ihr mit der anderen über das Gesicht, fuhr ihr mit dem Finger über die Brauen, die Lider, die Nase, zeichnete die Umrisse des Mundes nach und wiederholte leise: »Da bist du ja endlich.« Dann fragte sie: »Wie geht es Rose?«
»Sie vermisst dich«, erwiderte Ruth. Im gleichen Moment erkannte sie, dass Rose tatsächlich in all den Jahren ihre Mutter vermisst hatte, sich nach einem Menschen gesehnt hatte, der sie so vorbehaltlos liebte, wie es nur eine Mutter konnte.
Die Frau nickte, winkte dem Jungen und zog Ruth mit sich fort.
Kaum hatten sie den Kamm der Sanddüne erreicht, entfaltete sich vor Ruth ein Paradies. Hinter der Düne verbarg sich eine grüne Oase: ein winziger See, der von einem kleinen Flusslauf gespeist wurde, Bäume, Sträucher und ein Dutzend Pontoks aus Zweigen und Lehm. Vor ihnen saßen schwarze Frauen, hielten ihre nackten Kinder an die Brust, redeten, lachten und deuteten mit dem Finger auf Ruth und die weiße Frau.
Eine rief der nächsten etwas zu, Gemurmel erhob sich. Aus den Hütten traten weitere Frauen und Kinder und sammelten sich auf dem Platz zwischen den Pontoks. Über der großen Feuerstelle drehte sich ein Spieß, auf dem eine gehäutete Antilope steckte. Im Feuer standen rauchschwarze Töpfe.
»Das also ist dein Dorf«, stellte Ruth fest.
»Es ist mehr, es ist meine Heimat«, erwiderte Margaret Salden.
»Wo sind die Männer?«
»Sie haben die ganze Nacht gejagt, um Fleisch für das heutige Festmahl zu haben. Jetzt liegen sie hinter der Werft im Schatten, um sich auszuruhen.«
Ruth blieb stehen. »Bist du hier glücklich?«
Margaret Salden nickte. »Nein, glücklich bin ich nicht. Ihr fehlt mir, habt mir in all den Jahren gefehlt. Aber ich bin zufrieden hier, hier ist mein Zuhause.«
»Und ich auch. Ich bin hier auch daheim«, mischte
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