Das Flüstern der Nacht
Mühe rief er sich seine Pflichten ins Gedächtnis zurück und zügelte seine Fantasie.
»Ich bin der Sharum Ka des Wüstenspeers, Par’chin «, entgegnete er. »Ich kann nicht mal eben ein Kamel beladen und in die Wüste reiten, um dort nach einer Stadt zu suchen, die nur in alten Schriften existiert.«
»Ich denke, ich werde dich überzeugen, sobald es Nacht wird«, prophezeite der Par’chin .
Jardir verzog den Mund zu einem Lächeln. »Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst. Egal, ob der Speer mit Zeichen bedeckt ist oder nicht, du bist nicht der Erlöser. Es wäre schade, wenn wir dich begraben müssten.«
»Heute Nacht fällt die Entscheidung«, verkündete Inevera. »Ich habe das seit langem vorhergesehen. Töte ihn und nimm den Speer an dich. Wenn der Morgen dämmert, erklärst du dich selbst zum Shar’Dama Ka , und in einem Monat wirst du über ganz Krasia herrschen.«
»Nein«, lehnte Jardir ab.
Im ersten Moment schien Inevera seine Antwort nicht gehört zu haben. »… und die Sharach werden sich sofort auf deine Seite stellen«, fuhr sie fort, »aber die Kaji und die Majah können gar nicht anders, als auf ihrem Standpunkt zu beharren, dass … was?« Sie wandte sich wieder ihm zu, und ihre hochgezogenen Augenbrauen verschwanden unter ihrer Kopfbedeckung.
»Die Prophezeiung …«, setzte sie von neuem an.
»Die Prophezeiung soll verdammt sein!«, knurrte Jardir. »Ich werde meinen Freund nicht ermorden, egal, was die Dämonenknochen dir sagen. Ich werde ihn nicht berauben. Ich bin der Sharum Ka , kein Dieb in der Nacht.«
Sie schlug ihn, und das Klatschen ihrer Hand auf seinem Gesicht wurde von den Steinwänden zurückgeworfen. »Du bist ein Idiot, und nichts anderes!«, fauchte sie. »Jetzt ist der kritische Augenblick gekommen, an dem sich entscheidet, welchen Weg die Zukunft einschlägt. Aus mehreren Möglichkeiten schält sich eine Wirklichkeit heraus. Im Morgengrauen wird einer von euch zum Erlöser erklärt werden. Es ist an dir, zu bestimmen, ob es der Sharum Ka des Wüstenspeers sein wird oder ein grabschändender chin aus dem Norden.«
»Ich habe genug von deinen Prophezeiungen und entscheidenden Momenten«, schrie Jardir. »So wie ich von dir und sämtlichen dama’ting genug habe! Alles, was ihr von euch gebt, sind Spekulationen, mit denen ihr die Menschen manipuliert und ihnen euren Willen aufzwingt. Ich denke nicht daran, meinen Freund zu verraten, nur weil du es von mir verlangst, egal, was du in diesen siegelbedeckten Klumpen von alagai -Scheiße zu sehen vorgibst!«
Inevera kreischte und hob eine Hand, um ihn noch einmal zu schlagen, aber Jardir umklammerte ihr Handgelenk und riss den Arm in die Höhe. Eine Weile sträubte sie sich, aber ebenso gut hätte sie gegen eine Steinmauer kämpfen können.
»Zwing mich nicht, dir wehzutun«, warnte Jardir seine Frau.
Inevera kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, machte eine abrupte Drehung und stieß ihm den ausgestreckten Zeige-und Mittelfinger ihrer freien Hand gegen die Schulter. Sein Arm wurde sofort taub, sie entwand sich seinem Griff, trat schnell einen Schritt zurück und ordnete ihre Gewänder.
»Du glaubst immer noch, die dama’ting könnten sich nicht wehren, mein Gemahl«, erklärte sie, während er sie verdutzt anstarrte, »obwohl gerade du es besser wissen müsstest.«
Entsetzt blickte Jardir auf seinen Arm. Er hing schlaff herunter und ließ sich nicht mehr bewegen.
Inevera glitt wieder zu ihm, nahm seine gefühllose Hand in ihre und presste die andere Hand gegen seine Schulter. Sie verdrehte seinen Arm, drückte fest zu, und plötzlich wich das taube Gefühl einem schmerzhaften Kribbeln wie von tausend Nadelstichen.
»Du bist kein Dieb«, erklärte sie ihm mit ruhiger Stimme, »wenn du nur das zurückholst, was dir von Rechts wegen ohnehin gehört.«
»Der Speer gehört mir ?«, fragte Jardir zweifelnd und starrte auf seine Hand, in die langsam wieder Leben zurückkehrte.
»Wer ist denn hier der Dieb?«, gab Inevera zu bedenken. »Der chin , der Kajis Grabstätte ausraubt, oder du, sein Blutsverwandter, der das gestohlene Gut an sich nimmt?«
»Wir wissen nicht, ob es tatsächlich der Speer des Kaji ist, den er mitgebracht hat«, warf Jardir ein.
Inevera verschränkte die Arme vor der Brust. »Doch, du weißt es. Du wusstest es in dem Moment, als du ihn sahst, so wie du schon immer gewusst hast, dass dieser Tag kommen würde. Ich habe diese Fügung nie vor dir verheimlicht.«
Jardir
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