Das Flüstern der Nacht
unterschätzt sie«, erklärte Leesha. »Die Männer sehen nur ihre Schönheit und weigern sich, ihren wahren Charakter zu erkennen. Du glaubst, du seist es, der sie mit seinem Charme um den kleinen Finger wickelt, doch in Wahrheit wird sie dich verführen,
wie sie jeden Mann mit ihrem guten Aussehen blendet und sie obendrein gegen mich aufhetzt.«
»Das bildest du dir nur ein«, versetzte Rojer. »Wenn du so redest, klingt das, als hättest du deinen Verstand mit Bitterkraut beduselt. Elona ist doch kein dem Horc entsprungener böser Geist, der alles daransetzt, dich zugrunde zu richten.«
»Du kennst sie eben nicht gut genug«, erwiderte Leesha.
Rojer schüttelte den Kopf. »Arrick hat mir alles über Frauen beigebracht, und er sagte, solche wie deine Mam, die einmal richtige Schönheiten waren, aber dann anfangen zu verblühen, verhalten sich alle gleich. In ihrer Jugend stand Elona immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und daran hat sie sich gewöhnt. Alles muss sich nur um sie drehen, nur dann fühlt sie sich wohl. Du führst mit deinem Vater lange Gespräche über das Bannzeichnen, ein Thema, bei dem sie nicht mitreden kann, und sie fühlt sich ausgeschlossen. Sie giert danach, bemerkt zu werden, und um auf sich aufmerksam zu machen, ist ihr jedes Mittel recht. Vermittle ihr das Gefühl, dass sie in einer Gesellschaft die Hauptperson ist, und sie frisst dir aus der Hand.«
Leesha sah ihn eine Weile verdutzt an, dann fing sie schallend an zu lachen. »Dein Meister verstand überhaupt nichts von Frauen.«
»Offenbar schon«, hielt Rojer dagegen, »wenn man bedenkt, wie geschickt er darin war, sie in sein Bett zu locken.«
Leesha wölbte eine Augenbraue. »Und wie viele Frauen hat sein Lehrling rumgekriegt, indem er diese brillante Methode anwandte?«
Rojer schmunzelte. »Ich gehöre zu den Männern, die genießen und schweigen, aber ich wette eine Milneser Sonne, dass die Technik bei deiner Mutter wirkt.«
»Die Wette gilt«, erwiderte Leesha.
»Der Händler sagt also zu Arrick: ›Ich habe dich dafür bezahlt, dass du meiner Frau das Tanzen beibringst!‹«, erzählte Rojer. »Arrick, ruhig wie der Sonnenaufgang, sieht ihn nur an und entgegnet: ›Das tat ich auch. Ist es meine Schuld, dass sie dabei auf dem Rücken liegen wollte?‹«
Elona prustete vor Lachen, und Wein spritzte aus ihrem Becher, als sie ihn auf die Tischplatte knallte. Rojer stimmte in ihr Gegacker ein, dann stießen sie mit ihren Bechern an und tranken.
Vom anderen Ende des Tisches, an dem sie und ihr Vater sich unterhielten, sah Leesha die beiden mit bitterbösem Gesicht an. Sie wusste nicht, was sie mehr fürchtete, ihre Wette mit Rojer zu gewinnen oder sie zu verlieren. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, ihn hierherzubringen. Die schlüpfrigen Anekdoten, die er zum Besten gab, waren schon schlimm genug, doch noch mehr ärgerte es sie, wie Rojer unentwegt auf den Busen ihrer Mutter starrte, obwohl sie ihm bei dem tiefen Ausschnitt, den Elona trug, daraus kaum einen Vorwurf machen konnte.
Die Teller waren längst abgeräumt. Erny blätterte in dem Buch, das Leesha ihm mitgebracht hatte; seine Augen wirkten winzig hinter den dünnen Brillengläsern in dem Drahtgestell, das ihm ständig auf die Nasenspitze rutschte. Schließlich gab er einen Grunzer von sich, legte das Buch hin, um später weiterzulesen, und zeigte auf den Stapel Bücher mit Ledereinband, der sich vor Leesha auftürmte.
»Mehr konnte ich nicht machen, dazu hat die Zeit nicht gereicht«, erklärte er. »Du füllst die Bücher schneller als ich sie binden kann.«
»Das liegt nur an meinen Schülerinnen«, erwiderte Leesha und holte den Teekessel von der Feuerstelle. »Jedes Buch, das ich fülle, wird von ihnen dreimal kopiert.«
»Trotzdem ist es eine gewaltige Leistung«, entgegnete Erny. »Mein ganzes Leben lang besaß ich nur ein einziges Grimoire, und
selbst das habe ich nie ganz ausgefüllt. Wie viele hast du jetzt? Ein Dutzend?«
»Siebzehn«, antwortete Leesha, »aber sie enthalten genauso viel Dämonologie wie Siegel, und das meiste steuert ohnehin der Tätowierte Mann bei. Allein das Kopieren der Siegel auf seiner Haut hat mehrere Bücher gefüllt.«
»Oh?« Elona horchte auf. »Und wie viel von seiner Haut hast du dabei gesehen?«
»Mutter!«, protestierte Leesha.
»Der Schöpfer weiß, dass ich dich nicht verurteile«, legte Elona los. »Es wäre nicht das Schlechteste, wenn du ein Kind des Erlösers zur Welt brächtest, auch wenn er
Weitere Kostenlose Bücher