Das Flüstern der Nacht
regelmäßige Mahlzeiten, und wenn der Arm noch einmal verletzt wird, bevor ich die Verbände abnehme, werde ich dich zur Rechenschaft ziehen.«
Der Exerziermeister verbeugte sich. »Es wird geschehen, wie die dama’ting befiehlt«, entgegnete er. Jardir bekam seine Schüssel und durfte sich an die Spitze der Schlange stellen. Keiner der anderen Burschen, nicht einmal Hasik, wagte dagegen zu protestieren, aber Jardir konnte ihre empörten Blicke hinter seinem Rücken spüren. Lieber hätte er um sein Essen gekämpft, selbst mit einem eingegipsten Arm, als sich diesem ablehnenden Starren auszusetzen, aber die dama’ting hatte einen Befehl erteilt. Wenn er nicht freiwillig aß, würden die Exerziermeister nicht zögern, ihm die Schleimsuppe mit Gewalt einzuflößen.
»Wird der Arm wieder heilen?«, erkundigte sich Abban, als sie an ihrem gewohnten Platz die Suppe schlürften.
Jardir nickte. »Nach einem Bruch werden Knochen stärker.«
»Ich möchte lieber nicht ausprobieren, ob das stimmt«, meinte Abban. Jardir zuckte die Achseln. »Wenigstens beginnt morgen das Erlöschen des Mondes«, fuhr Abban fort. »Dann kannst du ein paar Tage zu Hause wohnen.«
Jardir blickte auf den Gipsverband und schämte sich in Grund und Boden. Das konnte er nicht vor seiner Mutter und seinen Schwestern verheimlichen. Er war noch nicht einmal einen vollen Mondkreislauf im sharaj , und schon bereitete er ihnen Schande.
Unter dem Erlöschen des Mondes verstand man die drei Tage dauernde Neumondphase, wenn Nies Macht angeblich am stärksten war. Die Jungen im Hannu Pash verbrachten diese Zeit daheim
bei ihren Familien, damit ihre Väter sie vor Augen hatten und sich vergegenwärtigen konnten, wofür sie in der Nacht kämpften.
Aber Jardirs Vater war tot, und Jardir bezweifelte ohnehin, dass er das Herz des Mannes mit Stolz erfüllt hätte. Seine Mutter Kajivah verlor kein Wort über die Verletzung, aber Jardirs jüngere Schwestern verhielten sich weniger diskret.
Unter den anderen nie’Sharum hatte Jardir sich daran gewöhnt, lediglich seinen Bido und Sandalen zu tragen. In Gesellschaft seiner Schwestern, alle von Kopf bis Fuß in gelbbraune Gewänder gehüllt, die nur die Hände und Gesichter freiließen, kam er sich nackt vor, und er hatte keine Möglichkeit, seinen Gips zu verstecken.
»Was ist denn mit deinem Arm los?«, bestürmte seine jüngste Schwester Hanya ihn in dem Moment, als er durch die Tür trat.
»Ich hab ihn mir beim Training gebrochen«, behauptete Jardir.
»Wie kam das?«, fragte Imisandre, die älteste seiner Schwestern, die Jardir am nächsten stand. Sie legte eine Hand auf seinen anderen Arm.
Ihre mitfühlende Berührung, die früher wie Balsam auf Jardir gewirkt hatte, verzehnfachte nun seine Beschämung. »Es passierte beim sharusahk -Unterricht. Keine Sorge, es ist halb so schlimm.«
»Und wie viele Jungen waren nötig, um dich so zuzurichten?«, drängte Hanya. Jardir erinnerte sich daran, wie er einmal im Basar drei ältere Jungen verdroschen hatte, als einer von ihnen Hanya gehänselt hatte. »Ich wette, es waren mindestens zehn.«
Jardir blickte finster drein. »Es war bloß einer«, fauchte er.
Hoshvah, seine mittlere Schwester, schüttelte den Kopf. »Er muss zehn Fuß groß gewesen sein«, vermutete sie. Am liebsten hätte Jardir laut geschrien.
»Hört auf, euren Bruder zu belästigen«, griff Kajivah ein. »Bereitet ihm einen Platz am Tisch und lasst ihn in Frieden.«
Hanya nahm Jardirs Sandalen, während Imisandre die Bank am Kopfende des Tisches hervorzog. Kissen gab es nicht, aber sie legte ein sauberes Tuch über das Holz, damit er sich darauf setzen konnte. Nachdem Jardir einen Monat lang auf dem Fußboden des sharaj gehockt hatte, erschien ihm selbst das als ein Luxus. Hoshvah eilte mit den angeschlagenen Tonschalen herbei, die Kajivah aus dem dampfenden Kochtopf füllte.
An den meisten Abenden aß Jardirs Familie nur einfachen Couscous, aber Kajivah hob die an sie ausgeteilten Rationen auf, und bei Erlöschen des Mondes waren immer Gemüse und Gewürze daruntergemischt. Und heute, als Jardir zum ersten Mal während seines Hannu Pash anlässlich der Neumondphase nach Hause durfte, fand er in seiner Schüssel sogar ein paar harte Fleischbrocken, die jedoch nicht erkennen ließen, von welchem Tier sie stammten. Eine so üppige Mahlzeit hatte er schon lange nicht mehr bekommen - sie duftete köstlich und war mit der Liebe einer Mutter zubereitet -, aber er aß mit wenig Appetit,
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