Das Flüstern der Nacht
Marick, aber wenn ich damit fertig bin, würde ich dir gern eine Menge Fragen stellen.«
»Ich stehe zu deiner Verfügung«, entgegnete Marick mit einer Verbeugung.
»Danke. Es wäre hilfreich, wenn du die anderen Anführer deiner Gruppe mitbringst. Vielleicht haben sie deiner Geschichte etwas hinzuzufügen.«
»Natürlich«, bekräftigte Marick.
»Ich bringe sie im Gasthof unter«, erbot sich Stefny, Smitts Frau. »Ein kühles Bier und ein Happen zu Essen käme euch doch sicher ganz gelegen«, wandte sie sich dann an den Kurier.
»Mehr, als du dir vorstellen kannst«, stöhnte Marick.
Es gab Knochenbrüche zu richten und Infektionen mussten behandelt werden. Viele Entzündungen rührten daher, dass Blasen an den Füßen geplatzt waren und nicht versorgt wurden; die Leute waren über eine Woche lang auf offener Straße marschiert, und wer den Anschluss an die Hauptgruppe verlor, war so gut wie tot. Zudem hatten nicht wenige der Flüchtlinge Verletzungen durch Horclinge davongetragen, weil sich zu viele Menschen in hastig angefertigte Bannzirkel zwängten. Bei manchen grenzte es an ein Wunder, dass sie es überhaupt bis ins Tal des Erlösers geschafft hatten. Und nach allem, was die Leute erzählten, hatte es tatsächlich viele Todesopfer gegeben.
Unter den Flüchtlingen befanden sich mehrere Kräutersammlerinnen mit unterschiedlichen Fertigkeiten, und nachdem Leesha sich ein Bild von deren eigener körperlicher Verfassung gemacht hatte, teilte sie sie zur Arbeit ein. Keine der Frauen beklagte sich; es war immer und überall das Los einer Kräutersammlerin, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, um die Nöte ihrer Schützlinge zu lindern.
»Ohne den Kurier Marick wären wir alle umgekommen«, erzählte eine Frau, als Leesha die Frostbeulen an ihren Zehen behandelte. »Jeden Tag ritt er voraus und sicherte Lagerplätze mit Siegeln, damit unsere Gruppe eine Zuflucht hatte, wenn die Horclinge erschienen. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte keiner von uns auch nur eine einzige Nacht überlebt. Er erlegte sogar Wild mit seinem Bogen und ließ es dann an der Straße zurück, wo wir es finden konnten.«
Als Rojer wieder auftauchte, waren die schlimmsten Verletzungen behandelt. Sie übergab die Leitung des Hospitals an Darsy und Vika und ging mit ihm in ihre Schreibstube.
Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, da lehnte sich Leesha gegen Rojer und gestattete es sich endlich, ihrer Erschöpfung nachzugeben. Es war später Nachmittag, und sie hatte stundenlang ohne Pause gearbeitet, Patienten untersucht
und nicht nur die Fragen der Schülerinnen beantwortet, sondern auch den Stadtältesten Auskunft gegeben, wenn sie sich mit ihren Problemen an sie wandten. In wenigen Stunden würde es dunkel sein.
»Du musst dich ausruhen«, mahnte Rojer. Aber Leesha schüttelte den Kopf, füllte eine Schüssel mit Wasser und spritzte es sich ins Gesicht.
»Dafür habe ich jetzt keine Zeit«, wehrte sie ab. »Haben wir für alle eine Unterkunft gefunden?«
»Schon, aber es wird richtig eng werden. Alles in allem halten sich zur Zeit doppelt so viele Flüchtlinge im Tal des Erlösers auf, wie der Ort Einwohner hat. Und ich zweifle nicht daran, dass morgen noch mehr Schutzsuchende hier eintreffen. Die Talbewohner haben ihre Häuser geöffnet und viele der Fremden bei sich aufgenommen, aber trotzdem müssen manche im Sitzen auf den Bänken des Heiligen Hauses schlafen, nur damit sie ein Dach über dem Kopf haben. Wenn das so weitergeht, ist am Wochenende jeder Zoll des Großsiegels mit behelfsmäßigen Zelten bedeckt.«
Leesha nickte. »Darüber machen wir uns morgen früh Gedanken. Wartet Arlen in Smitts Taverne?«
»Der Tätowierte Mann wartet dort«, betonte Rojer. »Nenne ihn vor all diesen Leuten nicht Arlen.«
»So heißt er aber, Rojer.«
»Das ist mir egal«, schnauzte Rojer und überraschte sie mit seiner Ruppigkeit. »Die Flüchtlinge brauchen etwas, das stärker ist als sie selbst und woran sie glauben können. Und im Augenblick ist das nun mal der Tätowierte Mann. Keiner verlangt von dir, dass du ihn den Erlöser nennst.«
Leesha blinzelte verdutzt. »Ich habe mich wohl daran gewöhnt, dass jeder springt, wenn ich ›hopp‹ sage.«
»Nun, von mir kannst du das jedenfalls nicht erwarten«, gab Rojer bissig zurück.
Leesha schmunzelte. »Anders will ich es auch gar nicht haben. Und jetzt komm mit. Wir gehen zum Tätowierten Mann.«
Die Schankstube in Smitts Taverne war bis zum Bersten gefüllt,
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