Das Flüstern der Nacht
fragte sich, wie sie es geschafft hatte, seine Gedanken so exakt zu lesen.
»Wie meinst du das?«, fragte er, um Zeit zu schinden.
»Du hast mir nie erzählt, wie es dazu kam, dass du letztes Jahr halbtot in unser Hospital gebracht wurdest. Du hast diesen Überfall nie bei der Garde angezeigt, hast nicht einmal der Jongleurgilde Bescheid gegeben, dass du noch lebst, selbst dann nicht, als sie Meister Jaycob bestattet haben.«
Rojer dachte an Jaycob, Arricks ehemaligen Meister, der nach Arricks Tod wie ein Großvater für ihn gewesen war. Jaycob hatte ihn aufgenommen, als er nirgendwohin konnte, und sich mit seinem eigenen guten Ruf für ihn verbürgt, um ihm eine Laufbahn als Jongleur zu ermöglichen. Für seine Gutherzigkeit musste der alte Mann schließlich einen hohen Preis bezahlen, denn wegen Rojers Vergehen prügelte man ihn zu Tode.
Rojer wollte etwas erwidern, aber seine Stimme versagte und Tränen traten ihm in die Augen.
»Schhh, schhh«, flüsterte Leesha, nahm seine Hände und zog ihn enger an sich. »Wir sprechen darüber, wenn du so weit bist.« Er lehnte sich an sie, atmete den süßen Duft ihres Haares ein und spürte, wie sich sein aufgewühltes Gemüt allmählich wieder beruhigte.
Sie waren noch zwei Tagesritte von der Stadt entfernt, unweit der Stelle, an der der Tätowierte Mann Rojer und Leesha damals auf der Straße gefunden hatte. Ohne Ankündigung wendete der Tätowierte Mann plötzlich sein Pferd und lenkte es in den Wald hinein.
Leesha trieb ihr Pferd an und suchte einen Weg durch die Bäume, bis sie an der Seite des Tätowierten Mannes ritt. Ohne einen Pfad, dem sie folgen konnten, und wegen des teils dichten Baumbestands, mussten sie sich immer wieder trennen und die Köpfe einziehen, um nicht gegen die niedrig hängenden Äste zu stoßen. Gared musste ganz absitzen, zu Fuß marschieren und sein Pferd am Zügel führen.
»Wohin bringst du uns?«, erkundigte sich Leesha.
»Wir holen deine Grimoires«, antwortete der Tätowierte Mann.
»Sagtest du nicht, du würdest sie in Angiers aufbewahren?«
»Doch, aber ich meinte das Herzogtum, nicht die Hauptstadt«, erwiderte der Tätowierte Mann mit einem Lächeln.
Bald verbreiterte sich die Schneise, auf der sie entlangritten, aber in einer Art, die dem ungeschulten Auge natürlich vorkam. Doch Leesha war eine Kräutersammlerin und kannte sich mit Pflanzen bestens aus.
»Das ist dein Werk«, stellte sie fest. »Du hast Bäume gefällt, den Pfad angelegt, und hinterher deine Spuren vertuscht, damit der Weg gar nicht erkennbar ist.«
»Ich schätze die Einsamkeit«, erklärte der Tätowierte Mann schlicht.
»Das muss Jahre gedauert haben!«
Er schüttelte den Kopf. »Dass ich so stark geworden bin, hat Vorteile. Ich kann einen Baum fast genauso schnell fällen wie Gared und transportiere ihn leichter als ein Pferdegespann.«
Sie folgten dem Schleichpfad tief in die Wälder hinein, bis er scharf nach links abbog. Doch anstatt auf ihm weiterzureiten, wandte sich der Tätowierte Mann nach rechts und ritt wieder mitten durch das Unterholz. Die anderen folgten ihm, und als sie das Dickicht durchbrachen, schnappten alle gleichzeitig nach Luft.
Vor ihnen ragte, versteckt in einer Mulde, eine Steinmauer auf, so von Efeu und Moos überwuchert, dass sie erst zu sehen war, wenn man direkt davor stand.
»Ich kann es nicht fassen, dass sich so etwas ganz in der Nähe der Straße befindet«, staunte Rojer.
»In den Wäldern gibt es Hunderte dieser Ruinen«, berichtete der Tätowierte Mann. »Nach der Rückkehr hat die Natur das Land schnell zurückerobert. Ein paar dieser verfallenen Bauten dienen den Kurieren als Lagerplätze, aber andere, so wie dieser hier, blieben jahrhundertelang unentdeckt.«
Sie folgten der Mauer, bis sie an ein Tor gelangten; es war uralt, verrostet und geschlossen. Der Tätowierte Mann fischte einen Schlüssel aus seinem Gewand und steckte ihn in das Schloss, das mit einem leisen, geölten Klicken aufsprang. Lautlos schwangen die Torflügel zur Seite.
In dem Anwesen gab es einen Stall, der von vorn aussah, als sei er in sich zusammengestürzt; doch die hintere Hälfte war intakt und sauber aufgeräumt, enthielt einen großen Wagen mit Verdeck und bot mehr als genug Platz für die vier Pferde.
»Es grenzt an ein Wunder, dass eine Hälfte des Stalls die Jahre so gut überdauert hat und die andere einem Trümmerhaufen gleicht«, bemerkte Leesha grinsend. Sie hob ein paar Efeuranken an und enthüllte die frischen
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