Das Flüstern der Nacht
nicht daran gewöhnt, weite Strecken zu laufen. Schon bald brannten ihre Lungen und ihre Beine wollten nicht mehr mitmachen. Wenn sie überhaupt nicht mehr konnte, hielt sie an, trank in gierigen Schlucken Wasser aus dem Schlauch und rang erschöpft nach Luft, aber sie rastete nie länger als ein paar Minuten, bevor sie weiterhetzte.
Als sie die Brücke erreichte, die über den Bach führte, sah sie alles verschwommen und fühlte sich, als hätte sie sich mit Bier aus Torfhügel betrunken. Am Ufer brach sie zusammen, tauchte das Gesicht in das kalte, fließende Wasser und stillte ihren unbändigen Durst.
Danach klärte sich zum ersten Mal seit fast einer Stunde wieder ihr Kopf, und sie schaute zum Himmel hinauf. Die Sonne stand bereits tief, aber wenn sie sich sputete, reichte die Zeit allemal. Als sie sich aufrappelte, spürte sie stechende Schmerzen in den Beinen, den Füßen und in der Brust, aber Renna schenkte dem keine Beachtung und rannte weiter.
Auf dem Weg durch die Siedlung sah sie ein paar Leute; die meisten waren dabei, vor Anbruch der Nacht ihre Siegel zu prüfen. Sie erntete neugierige Blicke, und jemand rief ihr etwas zu, aber sie kümmerte sich um niemanden, sondern steuerte den Ort an, den alle in Tibbets Bach kannten, Ruscos Gemischtwarenladen.
»Der Laden isch tschu«, lallte Stam Schneider, der die Verandatreppe herunterkam, gerade als Renna sich anschickte, die Stufen hochzustürmen. Er taumelte und Renna musste stehen bleiben, um ihn zu stützen.
»Was soll das heißen, der Laden ist zu?«, fragte sie und bemühte sich, ihre Verzweiflung nicht durchklingen zu lassen. »Bis Sonnenuntergang hat Rusco doch immer geöffnet.« Wenn sie Cobie nicht im Laden antraf, hatte sie keinen blassen Schimmer, wo sie ihn suchen sollte, und würde bis zu Ilain weiterrennen müssen.
»Schag isch doch!«, grölte Stam und nickte vehement. »Ay, deschhalb trank isch ein bischen tschu viel Bier und hab ein bischen verschüttet. Ischt dasch ein Grund, den armen Stam rauschtschuschmeischen und früher abtschuschlieschen?«
Renna wehte sein Geruch in die Nase, und angewidert wich sie zurück. Das Erbrochene auf seinem Hemd war noch feucht. Anscheinend war an manchem Klatsch, zum Beispiel daran, das Stam ein Säufer war, doch etwas Wahres dran.
Sie lehnte ihn an das Geländer, sauste die Treppe hoch und trommelte gegen die Tür. »Rusco!«, schrie sie. »Ich bin’s, Renna Gerber! Ich muss unbedingt mit Cobie Fischer sprechen!« Sie bearbeitete die Tür mit ihrer Faust, bis sie schmerzte, aber drinnen rührte sich nichts.
»Er isch schon weg«, nuschelte Stam, der sich an das Geländer klammerte. Sein Gesicht war von einer ungesunden Blässe, und er schwankte. »Isch will nur en bischen hier auf der Veranda sitschen … bisch isch wieder auf die Beine komm.«
Entsetzt starrte Renna ihn an, doch Stam deutete ihren Blick falsch. »Oh, mach dir um den alten Schtam Schneider keine Schorgen, Mädschen«, stammelte er und wedelte mit der Hand durch die Luft. »Mir ging esch schon oft noch viel schlimmer. Gleich … gleich geht esch mir wieder bescher!«
Renna nickte und wartete ab, bis er davongetorkelt war, bevor sie zur Rückseite des Ladens rannte. Sie bezweifelte, dass Rusco jemandem so weit vertraute, dass er ihm gestattete, sich in seinem Geschäft aufzuhalten, wenn er selbst nicht da war. Und mit Cobie machte er sicher keine Ausnahme. Wenn er also im hinteren Bereich des Ladens sein Zimmer hatte, musste es einen zweiten Eingang geben.
Sie hatte Recht und entdeckte ein winziges Kabuff neben den Ställen, das vermutlich zum Aufbewahren von Zaumzeug diente, aber groß genug war für eine Truhe und ein Feldbett. Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, klopfte sie an. Prompt öffnete Cobie die Tür, und vor Freude fing sie laut an zu lachen.
»Renna, was machst du denn hier?!« Verblüfft riss Cobie die Augen auf. Er steckte den Kopf durch die Tür und schaute in die Runde, dann packte er Renna beim Arm und zog sie in den Raum. Sie wollte ihn umarmen, aber er ließ sie nicht los und hielt sie auf Abstand.
»Hat jemand dich kommen sehen?«, fragte er hastig.
»Nur Stam Schneider am Vordereingang.« Renna lächelte. »Aber er ist so betrunken, dass er sich wahrscheinlich jetzt schon nicht mehr daran erinnert.« Wieder versuchte sie, sich an ihn zu schmiegen, doch er hielt sie immer noch zurück.
»Du hättest nicht kommen dürfen, Ren«, zischte Cobie.
Sie fühlte sich als hätte er ihr einen Hammerschlag gegen
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