Das Flüstern der Nacht
Stunden vor Anbruch der Abenddämmerung in Stadtplatz sein. Harl würde erst merken, dass sie fort war, wenn die Zeit nicht mehr ausreichte, um ihr zu folgen, weil er es dann riskierte, unterwegs auf Horclinge zu treffen; er musste entweder bis zum nächsten Morgen warten oder sich längs der Straße einen sicheren Ort zum Übernachten suchen.
Wenn Cobie in Stadtplatz war, blieb ihnen Zeit genug, um nach Torfhügel zu gehen und den Fürsorger aufzusuchen. Falls nicht, würde sie auf der Straße bis zu Jephs Hof weiterrennen. Sie selbst war noch nie dort gewesen, aber Lucik war den Weg schon gegangen, und er sagte, von Stadtplatz aus sei es ein zweistündiger Fußmarsch auf der Straße nach Norden. Um zum Hof zu gelangen, hätte sie reichlich Zeit, und Ilain würde sie verstecken, wenn Harl sie suchen kam. Auf ihre Schwester konnte sie sich verlassen, daran zweifelte sie keinen Augenblick.
Als es dann endlich so weit war, achtete sie sorgfältig darauf, ja nichts zu tun, was nicht der gewohnten Ordnung entsprach. Sie machte ihre Runden und verrichtete ihre Pflichten wie an jedem anderen Tag während der letzten Woche, bemüht, die Routine beizubehalten.
Als Harl zum Mittagsmahl von den Feldern kam, war der Eintopf fertig. »Möchtest du einen Nachschlag?«, fragte sie ihren Vater, damit er keinen Verdacht schöpfte, sie könnte es aus irgendeinem Grund eilig haben. »Ich will, dass der Topf leer wird, dann kann ich ihn auswaschen und zum Abendessen was Frisches kochen.«
»Gegen eine zweite Schale von deinem Eintopf hab ich nichts einzuwenden, Ren«, erwiderte Harl grinsend. »Ich hätte lieber dich all die Jahre an den Herd stellen sollen anstatt Beni.« Als sie sich bückte, um seine Schale zu füllen, kniff er ihr in den Hintern.
Am liebsten hätte Renna ihm den kochend heißen Eintopf in den Schoß gekippt, aber sie unterdrückte den Wunsch, zwang sich zu einem Kichern und servierte ihm das Essen mit einem Lächeln.
»Schön, dich auch mal lächeln zu sehen, Mädchen«, lobte Harl. »Seit deine Schwester und die Gören uns verlassen haben, ziehst du eine saure Schnute.«
»Ich glaub, ich hab mich jetzt an alles gewöhnt«, rang sie sich ab, setzte sich wieder auf ihren Stuhl und nahm sich selbst einen Nachschlag, obwohl ihr nach allem anderen der Sinn stand, nur nicht nach Essen.
Nachdem Harl vom Tisch aufgestanden war, zählte sie in Gedanken bis hundert. Dann sprang sie auf die Füße und flitzte zum Schneidebrett, auf dem sie Gemüse für den Eintopf gestapelt hatte, der jedoch für immer ungekocht bleiben sollte. Sie schnappte sich das Messer und rannte hinaus zur Scheune.
Die einzigen Zugtiere, die sie noch besaßen, waren die beiden Mulis. Traurig sah Renna sie an; sie hatte sie gepflegt, seit Harl sie als Fohlen von Mack Weides Hof mitgebracht hatte.
Brachte sie das wirklich übers Herz? Der Hof ihres Vaters war die einzige Welt, die sie kannte. Die wenigen Male, als sie in Stadtplatz oder Torfhügel gewesen war, hatte sie sich von den vielen Menschen erstickt gefühlt und konnte nicht verstehen, wie jemand in einer solchen Menge einen klaren Kopf behalten konnte. Würde man sie in der Gemeinde aufnehmen? Stand sie tatsächlich in dem Ruf, eine Hure zu sein? Würden Männer versuchen, sich ihr aufzuzwingen, weil sie sie für dumm und willig hielten?
Ihr Herz pochte so laut, dass es jedes andere Geräusch übertönte, aber sie atmete tief durch, bis sie sich beruhigt hatte und das Messer in ihrer Hand nicht mehr zitterte; dann hob sie es entschlossen hoch und schritt zur Tat.
Sie durchschnitt sämtliche Sattelgurte, die Wagengeschirre, die Zügel und Leinen. Energisch hämmerte sie den Zapfen aus einem
Wagenrad, trat solange dagegen, bis es von der Achse absprang, und zertrümmerte es dann mit einer Steinaxt.
Danach ließ sie die Axt fallen und fischte aus einer Schürzentasche die lange Kette aus Flusskieseln, die Cobie ihr geschenkt hatte. Sie hatte sich gehütet, sie vor ihrem Vater zu tragen, sondern sie nur in heimlichen Momenten bewundert. Jetzt schlang sie sich die Kette um den Hals, und es fühlte sich gut an, wie sie auf ihren Schultern lag. Ein richtiges Verlobungsgeschenk.
Zum Schluss holte sie den Schlauch mit Wasser hervor, den sie versteckt hatte, schlüpfte durch die Scheunentür, raffte die Röcke und hetzte die Straße hinunter so schnell sie konnte.
Das Rennen strengte sie mehr an als sie gedacht hatte, und der Weg nach Stadtplatz kam ihr länger vor. Sie war stark, aber
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