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Das Flüstern der Nacht

Das Flüstern der Nacht

Titel: Das Flüstern der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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beobachtete, wie ein Horcling nach dem anderen sich entzündete wie bei einem festlichen Feuerwerk.
    Und während die Horclinge von den Flammen verzehrt wurden, klangen seine eigenen Schmerzen ab. Die Sonne schwächte ihn, wie immer, aber sie zerstörte ihn nicht.
    Noch nicht, dachte er. Aber schon bald wird es so weit sein. Du solltest dich beeilen und die Siegel nach Tibbets Bach bringen, solange du noch kannst.

    Bekannte Kennzeichen tauchten auf, je näher der Tätowierte Mann an Tibbets Bach herankam, und seine Gedanken, die um den Horc gekreist hatten, kehrten in die Gegenwart zurück. Hier war die Kurierhöhle, in der er mit Ragen und Keerin Zuflucht gesucht hatte. Dort ragten die Ruinen auf, wo die beiden ihn damals fanden. Die verfallenen Gebäude waren zumindest frei von Dämonen. Ein Rudel Nachtwölfe hatte sich in ihnen eingenistet, und der Tätowierte Mann machte vorsichtshalber einen weiten Bogen um sie. Selbst Horclinge überlegten es sich zweimal, ehe sie ein Rudel Nachtwölfe störten. Nachdem Dämonen jahrhundertelang die kleinsten und schwächsten Exemplare ausgemerzt hatten, entwickelten sich die Tiere, die überleben und sich fortpflanzen konnten, zu wahrhaft reißenden Bestien. Die nach ihrem schwarzen Fell benannten Nachtwölfe konnten bis zu dreihundert Pfund wiegen, und ein in die Enge getriebenes Rudel war durchaus imstande, sogar einen Baumdämon zu zerfleischen.
    Die nächste markante Stelle, an der er vorbeiritt, war die kleine Lichtung, auf der er Einarm verkrüppelt hatte. Der Tätowierte Mann hatte erwartet, den Ort unverändert vorzufinden, eine schwarz verkohlte Wüste rings um den kreisrunden, mit gesundem
Gras bewachsenen Platz, den er durch seinen Zirkel geschützt hatte.
    Doch seitdem waren über vierzehn Jahre vergangen, und die frühere Ödnis strotzte nun vor blühendem Leben, das hier sogar noch üppiger gedieh als in der Umgebung. Es wäre ihm als gutes Omen erschienen, wenn er an so etwas geglaubt hätte.
    In einer so abgeschiedenen Gemeinde wie Tibbets Bach war die Ankunft eines Kuriers, überhaupt eines Fremden - und wenn es nur ein Bewohner von Sonnige Weide war, der nächstgelegenen Ansiedlung - eine Seltenheit und erregte allgemeines Aufsehen. Als der Tätowierte Mann die Ortschaft früh am Tag erreichte, legte er eine Rast ein und wartete. Es wäre besser, die Weiler später zu passieren, wenn die Leute damit beschäftigt waren, ihre Siegel zu prüfen, und ihr Augenmerk nicht auf die Straße richteten. Er wollte kurz vor Einsetzen der Abenddämmerung in Stadtplatz erscheinen, wenn ihm gerade noch Zeit blieb, sich in Ruscos Taverne ein Zimmer zu mieten. Am nächsten Morgen musste er dann nur noch den Stadtsprecher oder die Stadtsprecherin aufsuchen und ein Grimoire mit Kampfsiegeln übergeben, ein paar Waffen an diejenigen verteilen, die sich dafür interessierten, und dann konnte er wieder verschwinden, noch bevor die Mehrheit der Einwohner von seiner Ankunft erfuhr. Er fragte sich, ob Selia immer noch für die Stadt sprach, wie es der Fall gewesen war, als er noch in Tibbets Bach wohnte.
    Das erste Gehöft, an dem er vorbeikam, gehörte Mack Weide, doch obwohl er das Vieh in den Stallungen hörte, sah er keinen Menschen. Bald darauf erreichte er den Hof von Harl Gerber; hier rührte sich überhaupt kein Leben. Er musste erst kürzlich verlassen worden sein, denn die Siegel waren noch intakt und die Felder nicht verbrannt. Aber die Tiere waren fort, und die Äcker verwahrlost, als hätte sich schon länger niemand mehr richtig darum gekümmert. Spuren eines Dämonenangriffs konnte er aber nicht entdecken. Er wunderte sich, was wohl passiert sein mochte.

    Harls Hof hatte für ihn eine ganz besondere Bedeutung. Elf Jahre lang war er von seinem Zuhause aus nie weiter gekommen als bis hierher, und obendrein hatte er hier in der Nacht bevor seine Mutter starb, Beni und Renna geküsst. Es war schon seltsam. An das Gesicht seiner Mutter konnte er sich nicht mehr erinnern, doch über diese Küsse wusste er noch alles. Er erinnerte sich, wie seine und Benis Zähne klappernd gegeneinanderstießen, weil sie sich beim Küssen so unbeholfen anstellten, und beide erschrocken zurückgeprallt waren; wie weich und warm sich Rennas Lippen anfühlten, wie ihr Atem schmeckte.
    Schon lange hatte er nicht mehr an Renna Gerber gedacht. Ihre Väter hatten sie einander versprochen, und wenn Arlen nicht weggelaufen wäre, wären sie jetzt sicherlich verheiratet, würden Kinder großziehen und

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