Das Flüstern der Nacht
Rusco ihm die Münze abnahm. »Und falls du glaubst, mich übers Ohr hauen zu können, mache ich Velinpapier aus deinem Fell.«
Renna sah, wie der normalerweise mit einer frischen Hautfarbe gesegnete Rusco erbleichte. Obwohl er wesentlich kräftiger war als Arlen, wich er vor dessen hartem Blick zurück und schluckte krampfhaft. »Zwei Wochen«, stotterte er. »Ich geb dir mein Wort drauf.«
»Du hast auch gelernt, wie man Leute einschüchtert«, bemerkte Renna mit leiser Stimme, als er zu ihr zurückkam. Er sah sie nicht an, und die Kapuze bedeckte noch seinen Kopf. Einen Moment lang glaubte sie, er hätte sie nicht gehört.
»Habe sogar Unterricht darin bekommen, während meiner Ausbildung zum Kurier«, erwiderte er dann in dem rauen Ton, den er benutzte, wenn er mit Fremden sprach. Sie konnte sich das Grinsen auf seinen tätowierten Lippen vorstellen.
Rusco öffnete die Tür seines Gemischtwarenladens, und auf der Treppe drängte sich bereits eine große Menschenmenge. »Zurück!«, bellte er. »Macht den Weg frei für die Sprecher! Vorher nehme ich keine einzige Bestellung entgegen!« Die Leute murrten, weil sie befürchteten, ihren Platz in der Schlange zu verlieren, aber sie rückten beiseite und ließen die Gruppe passieren.
An vorderster Front stand Raddock Advokat, und als Renna die Stufen von Ruscos Veranda hinunterging, rief er: »Das ist noch nicht vorbei, Renna Gerber! Du kannst dich nicht ewig auf Jephs Hof verstecken!«
»Ich verstecke mich vor niemandem mehr!«, protestierte Renna und schaute ihm offen ins Gesicht. »Ich verlasse diese verdammte Stadt und komme nie wieder zurück!«
Raddock klappte den Mund auf, doch Arlen drohte ihm mit einem tätowierten Finger, und was immer er hatte entgegnen wollen, blieb ungesagt. Mit ohnmächtiger Wut sah er zu, wie Arlen seine Hände zu einer Räuberleiter verschränkte, um Renna dabei zu helfen, auf Schattentänzers Rücken zu steigen.
Dann zog Arlen ein kleines Buch aus einer Satteltasche, drehte sich um und blickte forschend über die Menge. Sobald er die
Schmucke Coline entdeckt hatte, ging er zu ihr. Die Kräutersammlerin zuckte zurück, als er sich ihr näherte, stolperte über die hinter ihr Stehenden und fiel kreischend zu Boden.
Arlen wartete, bis sie sich wieder aufgerappelt hatte, und drückte Coline, deren Gesicht vor Verlegenheit rot angelaufen war, das Buch in die Hand. »Hier drin steht alles, was ich über das Behandeln von Dämonenwunden weiß«, erklärte er. »Du wirst möglichst schnell alles auswendig lernen und das Buch dann weitergeben.«
In Colines Augen spiegelte sich das blanke Entsetzen, aber sie nickte folgsam. Arlen gab einen Grunzlaut von sich und schwang sich in den Sattel.
Gegen Mittag verließ Arlen Jephs Hof, um den Proviant von Rusco abzuholen. »Pack deine Sachen«, befahl er Renna, ehe er losritt. »Sobald ich zurückkomme, brechen wir auf.«
Renna nickte und schaute ihm hinterher. Sie hatte nichts zu packen, nicht einmal auf dem Hof ihres Vaters hatte sie etwas gehabt, das sie hätte einpacken können. Sie besaß nur Selias Kleid, das sie am Körper trug, das Messer ihres Vaters, das an ihrer Taille hing, und die Kette aus Flusskieseln, die Cobie ihr geschenkt hatte, und die immer noch zweimal um ihren Hals geschlungen war. Sie wünschte sich, sie könnte Arlen dafür, dass er sie mitnahm, etwas geben, aber sie hatte nichts außer sich selbst. Cobie hatte es genügt, doch sie bezweifelte, dass Arlen sich mit so wenig zufriedengeben würde.
Ilain trat auf die Veranda und stellte sich neben Renna, die gerade das Messer ihres Vaters schärfte.
»Ich gebe euch für eure Reise was zu essen mit«, erklärte sie, und streckte ihr einen Korb entgegen. »Der Proviant, den Rusco zubereitet, schmeckt zwar gut, aber es steckt nichts dahinter. Sein Schinken besteht mehr aus Rauch als aus Fleisch.«
»Danke.« Renna nahm ihr den Korb ab. Sie sah ihre Schwester an, die sie jahrelang so sehr vermisst hatte, und wunderte sich, warum ihr jetzt nichts einfiel, was sie ihr hätte sagen können.
»Du musst nicht fortgehen, Ren«, betonte Ilain.
»Doch, ich muss!«
»Dieser Kurier ist ein harter Mann, Renna, und wir wissen nichts über ihn, außer, dass er Dämonen tötet. Er könnte noch viel schlimmer sein als Dad. Hier bei uns wärst du sicherer aufgehoben. Nach der letzten Nacht werden die Leute dich in Frieden lassen.«
»In Frieden lassen!«, wiederholte Renna bitter. »Schätze, das macht es wieder gut, dass sie
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