Das Flüstern der Stille
Gänseblümchen. Sie suchte sich oft eine aus ihrem Vorgarten aus, steckte sie sich hinters Ohr und begann dann, riesengroße Blumensträuße zu pflücken. Sie plante komplizierte Hochzeiten mit ihren Puppen und Stofftieren. Einmal diesen Sommer, als einer der Studenten ihres Vaters – ein Junge namens Lucky – mit seinem Hund Sergeant vorbeikam, hatten Petra und Calli hastig Einladungen für eine Hochzeit geschrieben.
Wir laden Sie herzlich ein zur
feierlichen Vermählung
von
Gee Wilikers Gregory
und
Sergeant Thompson.
Heute Nachmittag im Garten
Gee Wilikers war Callis Stoff-Yorkshireterrier. Calli schmückte Sergeants Halsband mit Sonnenhutblüten und flocht aus weißen Gänseblümchen kleine Kronen für Gee Wilikers, Petra und sich. Petra führte durch die Zeremonie, und Calli war das Blumenmädchen. Lucky, Martin, Fielda und Antonia saßen als Gäste auf den in zwei Reihen arrangierten Gartenstühlen. Ben wollte mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun haben.
Petra summte den Hochzeitsmarsch, als Calli Sergeant und Gee Wilikers den provisorischen Gang hinunterführte, der mit einem ausgemusterten Spitzenläufer bedeckt war. Lucky tat so, als würde er vor Freude weinen, nahm Petra in die Arme, zog sie an sich und erklärte, dass die Hochzeit „Einfach wundervoll!“ gewesen sei. Antonia machte Fotos, und Petras Mutter servierte Zitronensorbet und Limonade.
Calli erinnerte sich daran, mit Petra und Lucky Fangen gespielt zu haben. Erinnerte sich daran, auf die Eiche in Petras Garten geklettert zu sein, wobei Lucky sie von unten geschoben hatte und dann selber hinaufgeklettert war. Sie hatten Eicheln hinuntergeworfen und zugeschaut, wie Sergeant ihnen hinterherjagte. Mit Luckys starkem Arm, der sie festhielt, hatte sie keine Angst gehabt hinunterzufallen. Es war so ein fröhlicher Tag gewesen. Calli erinnerte sich daran, ihre Arme um Sergeants Hals geschlungen zu haben, sein buschiges rotbraunes Fell ganz warm von der Sonne. Es fiel in struppigen Büscheln aus und hing an Callis Fingern und Gesicht, die ganz klebrig von Eiscreme waren.
Jetzt saß Calli inmitten der wilden Gräser, flocht violette Kornblumen zu einem Kranz und setzte ihn sich auf den Kopf. Dann machte sie eine zweite Krone für Petra. Petra, sie vermisste Petra. Nachdem Petra und Calli Freunde geworden waren, war Petra ihre offizielle Sprecherin in der Schule geworden. Von dem Tag an war Petra Callis Stimme, ihre verbale Kommunikation mit der Welt um sie herum. Mrs. Vega, ihre Klassenlehrerin in der Ersten, hatte diese Regelung akzeptiert und betrachtete die Mädchen oft als eine Einheit. Einmal, auf einem Klassenausflug in den Zoo von Madison, hatte der Schulbus an einem Fast-Food-Restaurant angehalten. Mrs. Vega hatte zwar Calli gefragt, was sie essen wolle, aber in Erwartung einer Antwort dabei Petra angeschaut.
Die hatte, ohne groß nachzudenken, geantwortet: „Sie möchte einen Hamburger nur mit Senf, dazu Pommes frites und eine Sprite. Calli liebt Senf.“
Die meisten Erwachsenen, mit denen Calli an der Schule zu tun hatte, richteten sich auf ihre speziellen Bedürfnisse ein. Eines Tages jedoch fand Calli in der Schule nicht Mrs. Vega, sondern eine Ersatzlehrerin vor. Sie war eine große Frau, rund und teigig, mit einem dichten Schopf grauer, lockiger Haare und einem strengen, runzeligen Gesicht. Ihr Name war Mrs. Hample, und sie hatte weder die gute Laune noch die Geduld von Mrs. Vega. Als Mrs. Hample jedes Kind nach seinem Namen fragte und Calli an der Reihe war, antwortete sie nicht, sondern schaute nur schüchtern auf ihren Tisch.
„Sie heißt Calli“, sprang Petra für sie ein, was ihr einen scharfen Blick von Mrs. Hample einbrachte.
Die erste Stunde des Unterrichts verlief relativ ereignislos, aber nachdem Petra das dritte Mal für Calli geantwortet hatte, platzte Mrs. Hample der Kragen.
„Petra, antworte nie wieder für Calli, verstanden? Ich habe dich nicht aufgerufen“, befahl sie mit strenger Stimme.
„Aber Calli kann nicht …“, fing Petra an, doch Mrs. Hample unterbrach sie.
„Du hörst mir nicht zu. Hör auf, für Calli zu sprechen. Wenn sie etwas zu sagen hat, kann sie das selber tun.“
Kurz vor der Pause näherte sich Calli zaghaft Mrs. Hample und machte das Zeichen für Toilette. Ihr Daumen zeigte zwischen Zeige- und Mittelfinger nach oben, um den Buchstaben T für Toilette zu bilden, dann drehte sie ihr Handgelenk hin und her.
„Was soll das heißen? Bist du taub?“ Calli schüttelte den
Weitere Kostenlose Bücher