Das Fluestern des Todes
seiner Nähe zu haben. So sehr er sie mochte: Ihre Anwesenheit hatte ihn dazu gezwungen, sich mit Dingen zu beschäftigen, die einfach nicht relevant waren. Vielleicht war das bereits vor Montecatini der Fall gewesen, zu einem Zeitpunkt also, als er sie nur beschattete, aber die Gespräche, ihr Aufenthalt in seinem Haus, ihre naiven Fragen hatten alles nur noch verkompliziert.
Irritiert schaute er auf ein Mädchen, das gerade über den Bahnsteig ging, plötzlich aber seine Richtung änderte und direkt auf ihn zukam. Für den Bruchteil einer Sekunde spannte er die Muskeln an, bis er die zusammengeknüllte Tüte in ihrer Hand sah: Neben der Bank, auf der er saß, befand sich ein Mülleimer. Sie warf die Tüte hinein, drehte sich wieder um – und hatte ihn vermutlich überhaupt nicht registriert.
Er ließ seinen Blick über die anderen Passanten schweifen: das Kind, das vor seinen Eltern über den Bahnsteig tanzte; die alte Frau, die sich mit einem Rollkoffer abquälte und in ihrem Gesicht eine tiefe Abneigung gegen die gesamte Menschheit verriet; ein paar Teenager, die miteinander scherzten. Er machte von allen einen mentalen Schnappschuss – und stellte einmal mehr staunend fest, dass es wahrscheinlich der einzige Kontakt war, den er zu diesen Menschen je aufbauen würde.
Das war es, was ihn an Bahnhöfen und Zugreisen immer so elektrisierte: Er sah die Häuser, die er passierte, die erleuchteten Fenster, die Spaziergänger, die wartenden Autos an den Schranken – eine Abfolge von Einblicken in das Leben von Menschen, die er nie kennenlernen würde.
Er selbst war es gewesen, der sich aus dieser Welt zurückgezogen hatte, und doch überkam ihn stets ein Anflug von Sentimentalität, wenn er sie vorbeirasen sah. Und diesmal verstand er plötzlich auch, warum diese verpassten Gelegenheiten ihn so traurig machten.
Einer dieser Menschen konnte seine Tochter sein. Sie konnte in einem Bahnhof oder Flughafen an ihm vorbeigehen, ohne dass er es überhaupt bemerkte. Keiner von beiden würde realisieren, dass sich in ihrem Leben gerade eine einmalige Chance aufgetan hatte, die sich aber im Getöse des Alltags sofort wieder verflüchtigte.
Er atmete tief durch und versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. All diese Überlegungen mochten ja zutreffen, aber das Leben bestand nun mal aus schmerzlichen Widersprüchen – und bloßes Wunschdenken konnte daran nichts ändern.
Er holte das Buch heraus, das er gerade gekauft hatte – Jane Austens Überredung . Die Geschichte der Familie Elliot, auch wenn sie nun schon so weit in der Vergangenheit lag, zog ihn umgehend in ihren Bann. Seine alltägliche Routine war gestört worden – das war alles. In ein, zwei Tagen würde wieder alles beim Alten sein.
Als er zu Hause ankam, fühlte er sich schon wohler, auch wenn das Haus mit Erinnerungen und Assoziationen verbunden war, die wohl erst im Laufe der Zeit verschwinden würden. Das war nun mal das Problem, wenn man jemanden in seine Abgeschiedenheit einlud: Ihre Anwesenheit lag noch immer in der Luft – und zog ihn selbst in ein tiefes, dunkles Loch.
Kaum war er hereingekommen, fielen seine Augen auf die Pistole auf dem Esstisch. Es war die Waffe, die er dem Killer aus der Hotellobby abgenommen hatte. In der anschließenden Panik hatte Ella die Pistole eingesteckt – und sie erst heute Morgen wieder entdeckt.
Sie wollte ihm auch Das Nibelungenlied zurückgeben, aber er hatte ihr angeboten, es zu behalten. Er hatte sogar seine Telefonnummer auf die Innenseite des Covers geschrieben und ihr versichert, sie könne ihn jederzeit anrufen, wenn sie Hilfe brauche. Diese Freigiebigkeit bedauerte er inzwischen und hoffte, dass der Fall nie eintreten werde. Und wenn doch, müsste er wohl einen Rückzieher machen und sie vielleicht an Dan Borowski verweisen.
Und trotzdem verstand er genau, weshalb er ihr dieses Angebot gemacht hatte. Auf subtile Weise hatte sie sich in seinen Kopf geschmuggelt – was ihn wiederum an den nächsten Schritt zur Normalität erinnerte: Er holte das Foto von Madeleine aus der Schublade und stellte es an seinen angestammten Platz. Er musste kurz an seinen missglückten Proust-Witz denken – wo er Proust doch nicht einmal mochte.
Er setzte sich, schaute das Foto an und spürte, wie sehr er es in der letzten Woche vermisst hatte. Er war sich bewusst, wie absurd es war, ein Foto zu vermissen, aber es war nun mal das einzige Relikt aus einer vergangenen Zeit, die einzige Erinnerung an eine Frau, deren
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