Das Fluestern des Todes
sich so viel Zeit, wie Sie wollen.«
Sie hörte, wie die Tür hinter ihr behutsam ins Schloss fiel und sie allein in der unheimlich beruhigenden Stille zurückließ. Doch die dicken Teppichböden, die geschmackvolle Beleuchtung und dezente Möblierung konnten nichts daran ändern, dass sich die nackte, unwiderrufliche Wahrheit in Gestalt von drei Särgen drohend vor ihr aufbaute.
Sie trat zwischen die Särge ihrer Eltern und betrachtete ihre Gesichter. Ihre Augen waren geschlossen, und die Haut um das rechte Auge ihres Vaters sah unnatürlich aus und war offensichtlich heftig geschminkt worden. Er trug keine Brille, und sie war sich nicht sicher, ob das so üblich war – oder nur ein weiterer Hinweis, dass ihn der tödliche Schuss im Auge getroffen hatte.
Sie schaute auf das Gesicht ihrer Mutter, konnte keine vergleichbaren Einschüsse erkennen und fragte sich, wo die Kugel sie wohl getroffen hatte. Nun ja, auch dieses Detail würde sie wohl früher oder später erfahren.
Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie die Toten ansah, als seien sie Exponate einer Ausstellung, gänzlich unfähig, sie mit den Menschen in Verbindung zu bringen, die sie einmal gekannt hatte. Natürlich, dies waren ihre Eltern und sie waren tot, aber sie wusste nicht so recht, was sie beim Anblick ihrer sterblichen Überreste empfinden sollte.
Sie umrundete den Sarg, in dem ihre Mutter lag, und näherte sich langsam Bens Sarg – schaute aber noch immer zu ihren Eltern hinüber, um den befürchteten Anblick so lange aufzuschieben wie nur möglich. Sie war sich nicht sicher, ob sie es verkraften würde, ihn noch einmal aus der Nähe zu sehen, aber dafür war sie ja schließlich hierhergekommen.
Zunächst sah er gar nicht wie Ben aus, und für den Bruchteil einer Sekunde hoffte sie, dass alles vielleicht nur ein grässliches Missverständnis war. Aber er war es, auch wenn seinem Gesicht jede natürliche Mimik und Ausdrucksfähigkeit abging. Es war ein Gesicht, das sie sich nie bewusst eingeprägt hatte, weil sie instinktiv davon ausgegangen war, dass es immer ein selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens sein würde.
Sie versuchte, ihn in ihrer Vorstellung lebendig werden zu lassen, ihn so wahrzunehmen, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Gut sah er aus, und sie war sich sicher, dass ihn die Mädchen attraktiv gefunden hätten. Sie studierte die Form seines Mundes, seine Nase, die Augenbrauen – und dann fiel ihr Blick auf die weiße Narbe unter dem Kinn.
Sie war dafür verantwortlich. Als Kind hatte sie ihn vom Fahrrad gestoßen, einfach so. Der anschließende Schreck war ihr so unter die Haut gefahren, dass sie sich geschworen hatte, ihm nie wieder etwas anzutun. Hatte sie auch nicht – doch die Narbe spülte das alte Schuldgefühl in ihr Bewusstsein zurück, das Bild des kleinen Körpers auf dem Gehweg, seinen verbissenen Versuch, die Tränen zu unterdrücken.
Ein Schluchzen zuckte durch ihren Körper und schien ihr die Kehle abzuschnüren. Diese Last war einfach zu groß und schwer, um damit zu leben, sie selbst zu hilflos und schwach. Sie schlug ihre Hände vors Gesicht und zwang sich, durch die Finger zu atmen. Als sie sich etwas gefangen hatte, schaute sie ihn erneut an.
Sie wollte ihn in die Arme nehmen, schreckte dann aber doch zurück. Sie streichelte über sein weiches, seidiges Haar, bemühte sich aber, seine Haut, die eine unnatürliche Frische suggerierte, nicht zu berühren. Schließlich sah sie das, was sie eigentlich gleich auf den ersten Blick hätte sehen müssen: einen kleinen Flecken auf seiner Stirn, direkt über der Nasenwurzel.
Dort war er getroffen worden, das war die Stelle, die ihm seine Zukunft, ihre gemeinsame Zukunft als Bruder und Schwester geraubt hatte. Es machte sie wütend, und dieses Gefühl war noch intensiver als die Trauer – vielleicht weil es sich in den konkreten Vorsatz umleiten ließ, die Mörder einer gerechten Strafe zuzuführen. Es war das Einzige, was sie in diesem Moment noch für ihre Familie tun konnte.
Ohne sich noch einmal umzudrehen ging sie hinaus. Als sie in den Flur trat, war zunächst niemand zu sehen, doch am Haupteingang sah sie dann Simon, der auf einem Stuhl saß wie ein Schuljunge, der etwas ausgefressen hat.
Als er sie sah, sprang er auf. Sie hatte immer gedacht, dass er ihrem Vater ähnlich sah, aber tatsächlich wirkte er jetzt viel jünger, hatte noch immer braune Haare und ein glattes, jugendliches Gesicht. Aber offensichtlich war er völlig durch den
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