Das Flüstern des Windes (German Edition)
Fackel so, dass der Lichtschein es ausleuchtete.
Ein großer, hagerer Mann mit tief eingeschnittenen Gesichtszügen war darauf abgebildet. Sein eisengraues Haar fiel bis weit auf seine Schultern und die durchdringenden braunen Augen schienen sich auf den Betrachter zu heften. Der Mann trug den blutroten Mantel des Herrschers. In seinen Händen lag das berühmte Schwert Drachenzahn , bei dem sich der Künstler besonders viel Mühe gegeben hatte, die augenfälligen Details noch mehr hervorzuheben.
»Das ist unser Vater!«, hauchte Sara.
Karem wandte seinen Blick ab. Seine Augen erforschten Saras Gesicht, aber er sah nur Aufrichtigkeit darin.
»Nein, Sara!«, widersprach er. »Das ist dein Vater. Mein Vater war ein einfacher Messerschleifer und Händler.«
»Du glaubst mir nicht?«, meinte sie verzweifelt.
»Sara, vor nicht langer Zeit war ich noch ein Sklave und jetzt soll ich der vermisste Sohn eines Königs sein? Nein!« Er schüttelte den Kopf. »Das ist eine Geschichte für die Legenden und Balladen, aber das wirkliche Leben sieht anders aus. Lass uns jetzt zurückgehen, bevor jemandem unser Fehlen auffällt.«
Sie hatte Tränen in den Augen. »Bitte glaub mir doch! Ich fühle es, du bist mein Bruder. Es kann kein Zufall sein, dass wir uns begegnet sind. Das Schicksal wollte, dass du es bist, der mich findet und errettet.«
Er legte seine Arme zärtlich um sie und zog ihren Kopf an seine Brust.
»Das Schicksal ist nichts weiter als eine Kette seltsamer Zufälle. In der Arena entscheiden manchmal Kleinigkeiten über Leben und Tod. Ein guter Mann stirbt, weil das Lederband, das seine Sandalen hält, zerreißt und er daraufhin ins Stolpern kommt. Wäre meine Familie damals eine Stunde später auf diese Hochebene gekommen, würden sie heute noch leben und ich wäre nie Sklave geworden. Nein, es gibt kein Schicksal, keine Götter, die über unser Leben bestimmen und an den Fäden ziehen. Wir selbst und nicht voraussehbare Zufälle sind es, die all die Fäden verknüpfen oder zerschneiden, die uns mit dieser Welt und seinen Menschen verbinden.«
Sara schwieg. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie stumm.
Aus der unten liegenden Halle drang leise Musik nach oben. Es war eine unwirkliche Nacht, geschaffen, um Menschen Glück oder einen Fluch zu bringen.
Karem konnte die kommende Veränderung in seinem Leben spüren.
Vielleicht würden sich die Dinge endlich zum Guten wenden.
Als das Fest endlich vorüber war, hatte Karem todmüde das ihm zugewiesene Zimmer aufgesucht. Hastig hatte er sich entkleidet und sich dann völlig erschöpft auf das Bett geworfen. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr in einem Federbett geschlafen. Die angenehme Weichheit der Matratze ließ ihn sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf sinken.
5.
Es war noch früh am Morgen, als es an Karems Zimmertür energisch klopfte. Verschlafen schlüpfte er in seine Hosen.
Als er die Tür öffnete, stand Heidar, der Berater des Königs mit zwei Wachsoldaten vor ihm. Die Augen des Mannes glitten über Karems freien Oberkörper, entdeckten die Narben der Sklaverei und die alten Kampfwunden, die er aus der Arena davongetragen hatte.
»Ich wünsche Euch einen guten Morgen, Herr!«, begrüßte ihn Heidar. »Verzeiht bitte die frühe Störung, aber ein etwas peinlicher Anlass führt mich hierher.«
»Ja?«
»Lady Althara, die gerade im Begriff ist abzureisen, vermisst eines ihrer kostbarsten Schmuckstücke.«
»Wer?«
»Äh ..., die etwas füllige Dame, die gestern Abend eure Tischgesellschaft genossen hat. Wie gesagt, sie vermisst ihren Schmuck. Ein sehr wertvolles Diamantenarmband von seltener Qualität. Ihr habt es nicht zufällig gesehen?«
Karem war noch viel zu verschlafen. Der bei dem Festmahl genossene Alkohol wirkte noch immer in seinem Körper, so dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte.
»Nein, tut mir leid! Ich habe den Schmuck nicht gesehen. Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigt. Ich bin noch sehr müde und würde ich mich gern noch ein wenig hinlegen.«
Karem gähnte herzhaft und versuchte, die Tür zu schließen, aber Heidars Fuß schob sich in den Spalt.
»Verzeiht, Herr!«, entschuldigte sich der Berater, aber seine Stimme hatte jetzt einen eisigen Klang angenommen. »Der König selbst hat mich beauftragt, mich davon zu überzeugen, dass sich der Schmuck hier tatsächlich nicht befindet.«
Die Tür wurde aufgestoßen. Heidar und die beiden Gardisten traten in den Raum. Nur langsam dämmerte
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