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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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hatte. Bravo, X9, sagten alle zu ihm... Und ich haßte ihn noch mehr, weil er jetzt das Mädchen mit Zustimmung des Volkes besaß. Aber einige munkelten, er wäre ein unter die 591
    Partisanen infiltrierter Faschist, und ich glaube, das waren die, die das Mädchen begehrten, aber so war‘s, X9 wurde verdächtigt...«
    »Und dann?«
    »Hören Sie, Casaubon, warum interessieren Sie sich so für meine Angelegenheiten?«
    »Weil Sie erzählen, und Erzählungen sind Fakten des kollektiven Imaginären.«
    »Good point. Also, eines Morgens begab sich X9 aufs flache Land hinaus, vielleicht hatte er sich mit dem Mädchen in den Feldern verabredet, um über jenes kümmerliche Perting hinauszugelangen und ihr zu zeigen, daß seine Rute weniger kariös war als seine Zähne — entschuldigt, ich kann ihn noch immer nicht leiden —, na jedenfalls, da locken ihn die Faschisten in eine Falle, bringen ihn in die Stadt, und früh um fünf am nächsten Morgen wird er erschossen.«
    Pause. Belbo sah auf seine Hände, die er flach zusammen-gelegt hielt wie im Gebet. Dann nahm er sie plötzlich auseinander und sagte: »Es war der Beweis, daß er kein Infiltrierter war.«
    »Moral der Geschichte?«
    »Wer sagt denn, daß jede Geschichte eine Moral haben muß? Aber wenn ich’s recht bedenke, vielleicht will sie sagen, daß man, um etwas zu beweisen, manchmal sterben muß.«
    592

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    Ich bin, der ich bin.
    Exodus 3, 14
    Ich bin, der ich bin. Ein Axiom der hermetischen Philosophie.
    Madame Blavatsky, Isis Unveiled, p. l
    — Wer bist du? fragten gleichzeitig dreihundert Stimmen, während zwanzig Degen in den Händen der nächsten Phantome aufblitzten.
    — Ich bin, der ich bin, sagte er.
    Alexandre Dumas, Joseph Balsamo, II
    Am nächsten Morgen kamen wir wieder zusammen. »Gestern haben wir ein schönes Stück Trivialliteratur geschrieben«, sagte ich zu Belbo. »Aber wenn wir einen glaubwürdigen Plan machen wollen, sollten wir uns vielleicht ein biß-
    chen mehr an die Realität halten.«
    »An welche Realität?« fragte er mich. »Vielleicht gibt uns nur die sogenannte Trivialliteratur den wahren Maßstab der Realität. Man hat uns genarrt.«
    »Wer?«
    »Man hat uns eingeredet, auf der einen Seite wäre die Gro-
    ße Kunst, die Hochliteratur, die typische Personen in typischen Umständen darstellt, und auf der anderen die Trivialliteratur, die atypische Personen in atypischen Umständen darstellt. Ich glaubte, ein wahrer Dandy würde sich nie mit Scarlett O’Hara einlassen, nicht mal mit Constance Bona-cieux oder gar mit Angelique. Ich spielte mit dem Trivialro-man, um mich ein bißchen außerhalb des Lebens zu ergehen.
    Er beruhigte mich, weil er mir das Unerreichbare vorsetzte.
    Aber es ist nicht so.«
    »Nein?«
    »Nein. Proust hatte recht, das Leben wird sehr viel besser durch schlechte Musik als durch eine Missa Solemnis darge-593
    stellt. Die Kunst gaukelt uns etwas vor und beruhigt uns, denn sie läßt uns die Welt so sehen, wie die Künstler sie gerne hätten. Der Schauerroman tut so, als ob er bloß scherzte, aber dann zeigt er uns die Welt so, wie sie ist, oder zumindest so, wie sie sein wird. Die Frauen sind Mylady ähnlicher als Anna Karenina, Fu Man-Chu ist wahrer als Nathan der Weise, und die Realgeschichte gleicht mehr der von Eu-gène Sue erzählten als der von Hegel entworfenen. Shakespeare, Melville, Balzac und Dostojewski haben Schauerge-schichten geschrieben. Das, was wirklich geschehen ist, ist das, was die Trivialliteratur im voraus erzählt hat«
    »Ja, weil die Trivialliteratur leichter zu imitieren ist als die Kunst. Um wie Mona Lisa zu werden, muß man hart an sich arbeiten, um wie Mylady zu werden, braucht man sich bloß dem natürlichen Hang zur Bequemlichkeit zu überlassen.«
    Diotallevi, der bisher geschwiegen hatte, warf ein: »Wie unser Agliè. Er imitiert lieber Saint-Germain als Voltaire.«
    »Ja«, sagte Belbo, »und die Frauen finden Saint-Germain ja auch interessanter als Voltaire.«
    Später fand ich unter seinen files einen Text, in dem er unsere Ergebnisse in Schauerroman-Archetypen resümiert hatte.
    Ich sage in Schauerroman-Archetypen, weil er sich offensichtlich damit amüsiert hatte, das Ganze durch zusammen-montierte Klischees zu erzählen, ohne an Eigenem mehr als ein paar verbindende Sätze hinzuzufügen. Ich kann beileibe nicht alle Zitate, Plagiate, Entlehnungen und Paraphrasen identifizieren, aber ich habe viele Stellen dieser wilden Collage wiedererkannt. Ein weiteres Mal hatte sich

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