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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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als sie erscheint Ein Bällchen von höchstens dreißig Zentimetern Durchmesser im Mittelpunkt der Erde. Das hatten schon die alten Griechen vermutet.«
    »Das hast du jetzt erfunden«, sagte Diotallevi müde.
    »Das hab ich jetzt gerade nicht erfunden! Die Idee hatte bereits zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ein Amerikaner namens Symmes. Um die Jahrhundertwende wird sie dann von einem anderen Amerikaner aufgegriffen, einem gewissen Teed, der sich auf alchimistische Experimente und die Lektüre des Propheten Jesaja stützt. Und nach dem Ersten Weltkrieg wird seine Theorie von einem Deutschen perfektioniert, wie heißt er noch gleich, Karl Neupert, der sogar eine regelrechte Bewegung gründet, die Bewegung der 613
    ›Hohlweltlehre‹. Hitler und die Seinen finden, daß diese Theorie der hohlen Welt aufs schönste zu ihren Prinzipien paßt, ja es heißt sogar, sie hätten einige ihrer V2 nur deshalb danebengeschossen, weil sie die Flugbahn ausgehend von der Annahme einer konkaven und nicht konvexen Erdoberfläche berechneten... Hitler hat sich nunmehr überzeugt, daß er der König der Welt ist und daß der Führungsstab seiner Partei die Unbekannten Oberen sind. Und wo bitte wohnt der König der Welt? Innen drin, unten, nicht draußen. Von dieser Hypothese geht Hitler aus, als er beschließt, das Ganze umzustülpen: die Richtung und Reihenfolge der Suche, die Konzeption der endgültigen Karte und die Interpretati-onsweise des Pendels! Die sechs Gruppen müssen neu kombiniert und alle Berechnungen neu gemacht werden. Man vergegenwärtige sich nur einmal die Logik der Hitlerschen Eroberungen... Zuerst nimmt er Danzig, um die klassischen Stätten der Deutschordensritter in die Hand zu bekommen.
    Dann erobert er Paris, bringt das Pendel und den Eiffelturm unter seine Kontrolle, kontaktiert die synarchischen Gruppen und schleust sie in die Vichy-Regierung ein. Dann sichert er sich die Neutralität und faktische Komplizenschaft der Portugiesen. Viertes Ziel ist natürlich England, aber wir wissen, das ist ein harter Brocken. Einstweilen versucht er, mit dem Afrikafeldzug, nach Palästina vorzustoßen, aber auch das gelingt nicht. Also zielt er nun auf die Unterwer-fung der paulizianischen Territorien, indem er den Balkan und Rußland überfällt. Als er vier Sechstel des Großen Plans in Händen zu haben glaubt, schickt er Heß in geheimer Mission nach England, um ein Bündnis vorzuschlagen. Da die Baconianer nicht anbeißen, hat er eine Intuition: diejenigen, die den wichtigsten Teil des Geheimnisses in der Hand haben, müssen die uralt-ewigen Erbfeinde sein: die Juden. Und es ist gar nicht nötig, sie in Jerusalem suchen zu gehen, wo bloß noch wenige von ihnen leben. Das Jerusalemer Stück der Templerbotschaft befindet sich nicht mehr in Palästina, sondern im Besitz einer Gruppe der Diaspora. Und so erklärt sich der Holocaust.«
    »Wie das denn?«
    »Na, überlegt doch mal. Stellt euch vor, ihr wollt einen Völkermord begehen...«
    »Ich bitte dich«, sagte Diotallevi, »Jetzt übertreibst du aber.
    614
    Ich habe Magenschmerzen, ich gehe.«
    »Nun warte doch, Herrgott, als die Templer den Sarazenen die Bäuche aufschlitzten, da hast du dich amüsiert, weil das schon so lange her war, und jetzt willst du hier den Morali-sten spielen wie irgendein kleinbürgerlicher Intellektuellen!
    Wir sind hier dabei, die Weltgeschichte neu zu schreiben, da dürfen wir vor nichts zurückschrecken!«
    Wir ließen ihn weiterreden, überwältigt von seinem Elan.
    »Das Auffallende am Völkermord an den Juden ist die Län-ge und Umständlichkeit des Verfahrens. Erst werden sie in die Lager verbracht, um zu hungern, dann werden sie nackt ausgezogen, dann die Duschen, dann die pedantische Auf-stapelung von Leichenbergen, die Archivierung der Kleider, die Registrierung der persönlichen Habe... Das war kein rationales Verfahren, wenn es bloß ums Töten ging. Das wurde erst rational, wenn es darum ging, etwas zu suchen, etwas Verstecktes, eine Botschaft, die einer von diesen Millionen Menschen, der Jerusalemer Repräsentant der
    Sechsunddreißig Unsichtbaren, irgendwo an sich trug, in den Falten seiner Kleider, im Mund, auf die Haut tätowiert...
    Nur der Große Plan erklärt den unerklärlichen Bürokratis-mus der Hitlerschen Judenvernichtung. Hitler suchte bei den Juden die Anregung, die Idee, die ihm erlauben sollte, mit Hilfe des Pendels den genauen Punkt zu bestimmen, den Punkt unter der konkaven Wölbung, mit der die Hohlwelt sich

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