Das Foucaultsche Pendel
drin«, und er schlug sich erneut an die Stirn, »wie eine Obsession, und ich erschrecke bei dem Gedanken an die ungeheure Macht, die ich erlangen könnte, wenn ich mich nur entschlösse, das Erbe der Sechsunddrei-
ßig Unsichtbaren anzutreten. Jetzt verstehen Sie, warum ich Garamond dazu überredet habe, die Reihe Entschleierte Isis und die Geschichte der Magie herauszubringen: ich warte auf den richtigen Kontakt.« Und dann, mitgerissen von der 659
Rolle, in die er sich immer mehr hineinsteigerte, und um Agliè ein letztes Mal auf die Probe zu stellen, wiederholte er fast wörtlich die glühenden Worte, die Arsène Lupin am Ende der Aiguille Creuse vor Beautrelet spricht: »In manchen Augenblicken schwindelt mir ob meiner Macht. Ich bin trunken vor Kraft und Autorität.«
»Aber, lieber Freund«, hatte Agliè gesagt, »und wenn Sie nun den Phantasien eines Exaltierten zuviel Glauben geschenkt hätten? Sind Sie sicher, daß jener Text echt war?
Warum vertrauen Sie nicht auf meine Erfahrung in diesen Dingen? Wenn Sie wüßten, wie viele Enthüllungen dieser Art mir in meinem Leben schon vorgekommen sind, Enthüllungen, bei denen ich zumindest das Verdienst hatte, ihre Inkonsistenz bewiesen zu haben. Mir würde ein Blick auf die Karte genügen, um ihre Zuverlässigkeit einzuschätzen. Ich kann mich einiger Kenntnisse rühmen, vielleicht bescheidener, aber präziser Kenntnisse auf dem Gebiet der traditionellen Kartographie.«
»Herr Doktor Agliè«, hatte Belbo gesagt, »Sie wären der erste, der mir in Erinnerung riefe, daß ein aufgedecktes Initiationsgeheimnis zu nichts mehr nütze ist. Ich habe jahrelang geschwiegen, ich kann auch weiter schweigen.«
Und er schwieg. Auch Agliè, ob naiv oder nicht, spielte seine Rolle ernsthaft. Er hatte sich sein Leben lang mit undurchdringlichen Geheimnissen abgegeben und glaubte nun fest, daß Belbos Lippen für immer versiegelt sein würden.
In diesem Moment kam Gudrun herein und meldete Belbo, die Verabredung in Bologna sei für Freitag mittag festgesetzt worden. »Sie können den TEE am Morgen nehmen«, sagte sie.
»Sehr angenehmer Zug, der TEE«, kommentierte Agliè.
»Aber es ist immer besser, sich einen Platz reservieren zu lassen, besonders in dieser Jahreszeit.« Belbo meinte, auch wenn man im letzten Augenblick komme, finde man noch einen Platz, notfalls im Speisewagen, wo das Frühstück serviert werde. »Na, dann viel Glück«, sagte Agliè. »Bologna, eine schöne Stadt. Nur so heiß im Juni...«
»Ich bleibe nur zwei, drei Stunden. Ich muß einen epigra-phischen Text diskutieren, wir haben Probleme mit den Reproduktionen.« Und dann gezielt: »Es ist noch nicht mein Urlaub. Den Urlaub nehme ich so um die Sommersonnwen-660
de herum, kann sein, daß ich mich noch entschließe... Sie haben verstanden. Ich vertraue auf Ihre Verschwiegenheit.
Ich habe zu Ihnen als einem Freund gesprochen.«
»Ich kann notfalls noch besser schweigen als Sie«, sagte Agliè. »Jedenfalls danke ich Ihnen aufrichtig für Ihr Vertrauen.« Und war hinausgegangen.
Belbo rieb sich befriedigt die Hände. Totaler Sieg seines astralen Narrationsvermögens über die Schwächen und Schäbigkeiten der niederen Welt.
Am nächsten Tag bekam er einen Anruf von Agliè: »Ich muß mich entschuldigen, mein lieber Freund. Ich stehe vor einem kleinen Problem. Sie wissen, daß ich ein bescheidenes Geschäft mit antiquarischen Büchern betreibe. Heute abend erhalte ich eine Sendung aus Paris, ein gutes Dutzend Bände aus dem Dixhuitième, von einem gewissen Wert, die ich unbedingt bis morgen einem Partner in Florenz aushändigen muß. Ich sollte sie selber hinbringen, aber ich werde hier durch eine andere Verpflichtung festgehalten. So habe ich an folgende Lösung gedacht: Sie müssen doch ohnehin nach Bologna fahren. Ich warte morgen früh am Zug, zehn Minuten vor der Abfahrt, und übergebe Ihnen ein kleines Köfferchen, Sie legen es in das Gepäcknetz und lassen es in Bologna dort liegen, allenfalls steigen Sie vielleicht als letzter aus, um sicherzugehen, daß es niemand wegnimmt. In Florenz wird mein Geschäftsfreund während des Halts einsteigen und sich das Köfferchen holen. Für Sie ist es eine lästige Mühe, ich weiß, aber wenn Sie mir diesen Dienst erweisen können, werde ich Ihnen auf ewig dankbar sein.«
»Gern«, antwortete Belbo. »Aber wie wird Ihr Freund in Florenz wissen, wo ich den Koffer gelassen habe?«
»Nun, ich bin vorsorglicher als Sie und habe Ihnen einen Platz
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