Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
Dann, als exakt 30 Minuten vergangen waren, konnte ihn nichts und niemand mehr davon abhalten, endlich tätig zu werden. Er hatte das tagelange Warten gründlich satt. Er wollte den Koffer. Und er wollte ihn jetzt gleich. Rains hatte sich eine grobe Strategie zurechtgelegt: Renfield würde den ersten Schritt machen, an der Haustür klingeln und sich unter irgendeinem Vorwand Zutritt verschaffen. Rains selbst würde, seine Unsichtbarkeit ausnutzend, das Übrige tun. War er erst mal drin, konnte er sich Zeit lassen. Auch wenn es den ganzen restlichen Tag und die Nacht dauern würde, er würde den Koffer schon finden.
Rains entledigte sich auf dem Rücksitz seiner Kleider und gemeinsam gingen Renfield und er zum Haus mit der Nummer 42 hinüber. Es war ein richtiger Kasten aus Bruchstein, mit Erkern nach vorn zur Straße, und es sah sehr teuer aus. Eine mit Efeu berankte Mauer umgab das ganze Grundstück. Vom zweiflügligen Holztor führte ein gewundener Pfad zum Portal des Hauses.
Familie Hugo Bertram stand auf dem blank polierten Messingschild der Klingel. Renfield betätigte sie und wartete.
Es dauerte nicht lange und die Tür wurde von einem älteren Herrn mit silbergrauen, fast weißen Haaren geöffnet.
»Was kann ich für Sie tun, junger Mann?«, fragte er mit leiser Stimme, wobei er seine kleinen, unter den buschigen weißen Brauen blinzelnden Augen mit der Hand gegen die grelle Nachmittagssonne beschirmte. Dann, als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, musterte er Renfields Erscheinung genauer – das glatte schwarze, in der Mitte geteilte Haar, den altmodischen schwarzen Anzug mit den zu kurzen Ärmeln. Ein mildes Lächeln erhellte seine Züge. »Ah, Sie müssen der Bestatter sein.« Sein Kopf wackelte leicht, und er zischte ein wenig beim Sprechen. Entweder handelte es sich um einen seltenen deutschen Dialekt oder er hatte seine Zähne nicht richtig eingeklebt. »Bitte, treten Sie ein. Ich bin Carl Wendelstein, ein Freund des Hauses. Ich bin noch ganz allein hier. Eugenie hat mir gar nichts gesagt. Ich nahm eigentlich an, Sie würden zusammen mit den anderen erst gegen Abend kommen.«
»Der frühe Vogel fängt den Wurm«, sagte Renfield und deutete eine Verbeugung an. Er spürte einen leichten Windhauch, als Rains an ihm vorbei ins Haus schlüpfte.
»Wie dem auch sei, es ist alles für Sie vorbereitet.«
»Sehr schön.« Renfield nickte huldvoll. Seit er die Pillen nahm, war er sichtlich auf Zack. »Wo ist der Leichnam?«
Sie waren unterdessen in die marmorne Eingangshalle getreten. Alles hier sah sehr gediegen aus. »Er ist oben.« Herr Wendelstein wies die Treppe hinauf. »Im Schlafzimmer.« Er sprach es wie Chlaftchimmer aus. »Sie wollen ihn sehen?«
Warum nicht? Wenn er schon mal hier war, könnte er ebenso gut einen Blick auf den Toten werfen.
»Ja, das würde ich gern«, sagte Renfield und versuchte, seiner Stimme einen würdevollen Klang zu verleihen. »Nur um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.« Wenn er Glück hatte, gab es vielleicht schon ein paar Fliegenlarven.
»Machen Sie nur, junger Mann«, sagte Herr Wendelstein. »Frau Bertram ist es wichtig, ihren Gatten in besten Händen zu wissen. Falls Sie Fragen haben, ich bin dann im Salon.«
»Ja, zu gütig.« Plötzlich durchzuckte ein heftiger Schmerz Renfields rechtes Ohr, so als habe jemand mit den Fingern dagegen geschnippt. »Au!«, stieß er hervor und fuhr in Erwartung einer weiteren Attacke zusammen.
Neben sich hörte er Rains’ leise, ärgerliche Stimme: »Sie sagten, die Frau sei alleinstehend, Renfield! Finden Sie sofort heraus, was hier falsch gelaufen ist!«
»Pst! Ich dachte, Sie suchen längst nach dem Koffer«, flüsterte Renfield dem Nichts um sich herum zu.
Verwundert drehte sich Herr Wendelstein um. »Ist Ihnen nicht gut?«
»Doch, doch«, erwiderte Renfield. »Mir fehlt nichts. Migräne, wissen Sie? Schlimme Sache. Gerade bei dem heißen Wetter.«
»Sind Sie sicher, dass es nur Migräne ist? Es kam mir so vor, als hätten Sie mit jemandem gesprochen.«
Renfield kicherte. »Mit wem sollte ich denn gesprochen haben? Hier ist doch niemand außer uns. Das wäre ja verrückt. Aber sagen Sie mal – der Verblichene, war er der Mann von Margret Bertram?«
» Margret Bertram? Ich verstehe nicht.« Herr Wendelstein rieb sich nachdenklich das Kinn. »Also, ich weiß nicht …«
»Oh, schon klar«, unterbrach ihn Renfield sofort. Was ging es denn ihn an, ob das Paar einen Trauschein besessen hatte.
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