Das fremde Gesicht
Fotos von Kyle herumzeigten.
Sie hatte den Abend über standhaft zu lächeln versucht, um nicht zu zeigen, wie furchtbar enttäuscht sie darüber war, daß ihr Vater zu diesem besonderen Anlaß nicht bei ihr war.
»Meghan?« erkundigte sich Frances Groliers beherrschte Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Es tut mir leid. Alles tut mir so leid. Was Sie mir gerade erzählt haben, ist fürchterlich wichtig. Es ist mit so vielem verknüpft, was passiert ist.«
Meghan legte den Hörer wieder auf, hielt ihn aber noch eine Weile fest. Dann wählte sie Phillips Nummer.
»Bestätigung.« Rasch erklärte sie ihm, was Frances Grolier ihr gerade gesagt hatte.
»Meg, du bist ein Genie«, sagte Phillip.
»Phillip, jetzt klingelt es. Das muß Kyle sein. Mac bringt ihn her. Ich hab’ ihn gebeten, mir etwas herüberzubringen.«
»Ja, mach nur. Und, Meg, rede nicht über diese Sache, bis wir ein umfassendes Bild haben, das wir Dwyer präsentieren können.«
»Ich sag’ nichts. Unser Staatsanwalt und seine Leute trauen mir sowieso nicht über den Weg. Ich rede erst mit dir.«
Kyle kam mit einem fröhlichen Grinsen herein.
Meghan beugte sich hinunter und gab ihm einen Kuß.
»Mach das bloß nie vor meinen Freunden«, warnte er.
»Wieso denn nicht?«
»Jimmys Mutter wartet an der Straße und küßt ihn, wenn er aus dem Schulbus steigt. Ist das nicht ekelhaft?«
»Warum hab’ ich dir dann einen Kuß geben dürfen?«
»Privat ist es okay. Niemand hat uns gesehen. Du hast gestern abend Dad geküßt.«
»Er hat mich geküßt.«
»Hat’s dir gefallen?«
Meg dachte nach. »Man könnte sagen, daß es nicht ekelhaft war. Willst du ein paar Kekse und Milch?«
»Ja, bitte. Ich hab’ das Video dabei, damit du’s dir anschauen kannst. Warum willst du’s noch mal sehen?«
»Ich weiß nicht genau.«
»Okay. Dad hat gesagt, er kommt ungefähr in einer Stunde. Er mußte irgendwas aus dem Laden abholen.«
Meghan brachte den Teller Kekse und die Gläser mit Milch in den Hobbyraum. Kyle setzte sich ihr zu Füßen auf den Boden; mit Hilfe der Fernbedienung ließ er wieder einmal die Aufnahme des Interviews im Franklin Center laufen. Meg bekam auf einmal Herzklopfen. Sie fragte sich: Was war es nur, was mir dabei aufgefallen ist?
In der letzten Einstellung im Sprechzimmer von Dr. Williams, als die Kamera über die Abbildung der Kinder schwenkte, die durch künstliche Befruchtung zur Welt gekommen waren, fand sie, wonach sie gesucht hatte. Sie riß Kyle die Fernbedienung aus der Hand und hielt das Band an.
»Meg, es ist fast vorbei«, protestierte Kyle.
Meg starrte auf das Foto mit dem kleinen Jungen und Mädchen, die beide den gleichen Pullover trugen. Sie hatte dasselbe Bild an der Wand von Helene Petrovics Wohnzimmer in Lawrenceville gesehen. »Es ist vorbei, Kyle. Jetzt weiß ich den Grund.«
Das Telefon klingelte. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie zu Kyle.
»Ich spule zurück. Ich weiß, wie’s geht.«
Es war Phillip Carter. »Meg, bist du allein?« fragte er hastig.
»Phillip! Ich hab’ soeben den Beweis gefunden, daß Helene Petrovic Dr. Williams gekannt hat. Ich glaube, ich weiß jetzt, was sie in der Manning Clinic getrieben hat.«
Es war, als hätte er sie gar nicht gehört. »Bist du allein?«
wiederholte er.
»Kyle ist im Hobbyraum.«
»Kannst du ihn nach Hause bringen?« Seine Stimme klang leise und aufgeregt.
»Mac ist nicht da. Ich kann ihn im Gasthof lassen.
Mutter ist dort. Phillip, worum geht’s?«
Carter klang jetzt fassungslos, ja geradezu hysterisch.
»Ich hab’ eben mit Edwin gesprochen! Er will uns beide sehen. Er versucht sich klar darüber zu werden, ob er sich stellen soll. Meg, er ist verzweifelt. Laß niemand etwas davon wissen, bis wir Gelegenheit haben, ihn zu treffen.«
»Dad? Hat dich angerufen?« Meg schnappte nach Luft.
Wie betäubt stand sie da und hielt sich am Schreibtischrand fest. Mit einer kaum hörbaren Stimme verlangte sie zu wissen: »Wo ist er? Ich muß unbedingt zu ihm.«
56
Als Bernies Mutter wieder zu Bewußtsein kam, versuchte sie um Hilfe zu rufen, aber sie wußte, daß sie keiner ihrer Nachbarn hören konnte. Sie würde es niemals schaffen, die Treppe hochzukommen. Sie mußte sich in Bernards Fernsehecke schleppen, wo ein Telefon war. Es war allein seine Schuld, weil er den Platz nicht sauberhielt. Ihr Knöchel tat schrecklich weh. Die Schmerzen schossen ihr durchs ganze Bein. Sie öffnete den Mund und japste nach Luft. Es war die reinste Qual,
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