Das fremde Gesicht
folgenden Morgen von Connecticut wegzuziehen. Hatte ihr Entschluß wohl etwas mit Dr. Mannings Weigerung zu tun, an der Sondersendung mitzumachen?
Es war zu früh, um Tom Weicker anzurufen, aber es war vermutlich nicht zu spät, um Mac zu erwischen, bevor er zur Arbeit fuhr. Meghan wußte, daß es noch etwas gab, was sie in Angriff nehmen mußte, und sie konnte es genausogut gleich tun.
Macs Hallo klang gehetzt.
»Mac, entschuldige bitte. Ich weiß, es ist eine schlechte Zeit zum Anrufen, aber ich muß mit dir reden«, sagte Meghan.
»Grüß dich, Meg! Klar. Warte nur einen Moment.«
Er hatte offenbar die Hand auf die Gesprächsmuschel gelegt. Sie hörte ein gedämpftes, aber verärgertes Rufen:
»Kyle, du hast deine Hausaufgaben auf dem Eßtisch liegenlassen.«
Als er wieder an der Leitung war, erklärte er: »Wir haben jeden Morgen dasselbe Theater. Ich sag’ ihm, er soll seine Hausaufgaben abends in die Schultasche tun. Er macht es nicht. Am Morgen jammert er dann, daß er sie nicht findet.«
»Warum steckst du sie ihm denn nicht abends in die Schultasche?«
»Das wäre pädagogisch unklug.« Sein Tonfall änderte sich. »Meg, wie geht’s deiner Mutter?«
»Gut. Ich glaube wirklich, sie ist okay. Sie ist eine starke Frau.«
»Wie du.«
»Ich bin nicht so stark.«
»Zu stark für meinen Geschmack, wenn man bedenkt, daß du mir das mit der erstochenen Frau nicht erzählt hast.
Aber das ist ein Thema, von dem wir lieber ein andermal reden.«
»Mac, könntest du für drei Minuten auf deinem Weg hier vorbeischauen?«
»Natürlich. Sobald Ihro Majestät im Bus ist.«
Meghan wußte, daß ihr nur zwanzig Minuten zum Duschen und Anziehen blieben, bis Mac kam. Sie bürstete sich gerade die Haare, als es an der Tür klingelte. »Trink doch schnell ’ne Tasse Kaffee«, sagte sie. »Was ich dich gleich fragen will, ist nicht so einfach.«
War es erst vierundzwanzig Stunden her, seit sie sich an diesem Tisch gegenüber gesessen hatten? überlegte sie. Es schien so viel länger her zu sein. Doch gestern war sie fast in einem Schockzustand gewesen. Heute, in dem Bewußtsein, daß ihrer Mutter mit fast völliger Gewißheit nichts fehlte, war sie fähig, sich mit jeder auch noch so harten Wahrheit, die ans Tageslicht kommen mochte, auseinanderzusetzen und abzufinden.
»Mac«, begann sie, »du bist ein DNS-Spezialist.«
»Ja.«
»Die Frau, die am Donnerstag abend erstochen worden ist, die, die mir so ähnlich sieht?«
»Ja.«
»Wenn man ihre DNS mit meiner vergleicht, könnte man eine Verwandtschaft abklären?«
Mac hob die Augenbrauen und betrachtete die Tasse in seiner Hand. »Meg, also das funktioniert so. Mit DNS-Untersuchungen können wir definitiv herausbekommen, ob zwei Menschen von derselben Mutter stammen. Es ist kompliziert, und ich kann dir im Labor zeigen, wie’s gemacht wird. Mit etwa neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit können wir feststellen, ob zwei Leute denselben Vater hatten. Es ist nicht so absolut sicher wie die Mutter-Kind-Konstellation, aber wir können einen sehr deutlichen Hinweis darauf erhalten, ob wir es mit Halbgeschwistern zu tun haben oder nicht.«
»Kann man diese Analyse bei mir und der Toten machen?«
»Ja.«
»Es scheint dich gar nicht zu überraschen, daß ich mich danach erkundige, Mac.«
Er stellte die Kaffeetasse ab und schaute ihr direkt ins Gesicht. »Meg, ich hatte mir schon vorgenommen, heute nachmittag zum Leichenschauhaus zu gehen und mir diese junge Tote anzuschauen. Sie haben ein DNS-Labor in der gerichtsmedizinischen Abteilung. Ich hatte vor, sicherzustellen, daß sie eine Blutprobe von ihr aufheben, bevor man sie zum Armenfriedhof abholt.«
Meg biß sich auf die Lippen. »Dann denkst du ja ganz ähnlich wie ich.« Sie blinzelte, um die überdeutliche Erinnerung an das Gesicht der Toten auszulöschen. »Ich muß heute zu Phillip hinüber und im Krankenhaus vorbeischauen«, fuhr sie fort. »Ich treff dich dann in der Gerichtsmedizin. Wann paßt es dir denn?«
Sie verabredeten sich für etwa zwei Uhr. Beim Wegfahren ging Mac der Gedanke durch den Kopf, daß es ihm zu keinem Zeitpunkt paßte, auf das tote Gesicht einer Frau herunterzuschauen, die Meghan Collins ähnlich sah.
23
Phillip Carter hörte die Nachricht mit den Einzelheiten von Dr. Helene Petrovics Tod auf seinem Weg zum Büro.
Er nahm sich vor, Victor Orsini sofort auf die offene Stelle anzusetzen, die durch den Todesfall in der Manning Clinic entstanden war. Schließlich war die
Weitere Kostenlose Bücher