Das fremde Gesicht
Er hielt die Kamera nicht ruhig genug, stellte er fest.
Das Bild war verwackelt. Das nächstemal würde er besser achtgeben.
»Bernard!« Seine Mutter schrie vom oberen Treppenabsatz aus nach ihm. Widerwillig stellte er das Gerät ab.
»Ich bin sofort da, Mama.«
»Dein Frühstück wird kalt.« Seine Mutter war in ihren Flanellmorgenrock eingehüllt. Er war so oft gewaschen worden, daß der Kragen, die Ärmel und das Hinterteil ganz verschlissen waren. Bernie hatte ihr gesagt, daß sie ihn zu oft wusch, aber Mama antwortete, sie sei schließlich ein sauberer Mensch, in ihrem Haus könne man vom Boden essen.
Heute morgen war Mama schlecht gelaunt. »Ich hab’
letzte Nacht ständig niesen müssen«, bedeutete sie ihm, während sie Haferflockenbrei vom Topf aus dem Herd austeilte. »Ich glaube, ich habe eben gerochen, daß Staub vom Keller raufkommt. Du wischst doch den Boden da unten, sag mal?«
»Ja, mach’ ich, Mama.«
»Ich wünschte, du würdest die Kellertreppe richten, damit ich hinunter und selber nachschauen kann.«
Bernie wußte, seine Mutter würde nie das Risiko mit der Treppe eingehen. Eine der Stufen war kaputt, und das Geländer war wackelig.
»Mama, die Treppe da ist gefährlich. Denk dran, was mit deiner Hüfte passiert ist – und jetzt, mit deiner Arthritis in den Knien, mußt du wirklich vorsichtig sein.«
»Glaub’ bloß nicht, daß ich so was noch mal riskiere«, fuhr sie ihn an. »Aber sorg dafür, daß immer gewischt ist.
Ich weiß sowieso nicht, warum du da unten soviel Zeit verbringst.«
»Doch, weißt du schon, Mama. Ich brauche nicht viel Schlaf, und wenn ich den Fernseher im Wohnzimmer anhab’, dann hält es dich vom Schlafen ab.« Mama hatte ja keine Ahnung von all den elektronischen Geräten, die er hatte, und sie würde es auch nie erfahren.
»Ich hab’ letzte Nacht nicht viel geschlafen. Meine Allergien mal wieder.«
»Tut mir leid, Mama.« Bernie aß den lauwarmen Brei auf.
»Ich bin spät dran.« Er griff nach seiner Jacke.
Sie folgte ihm zur Tür. Als er aus dem Haus ging, rief sie ihm nach: »Ich bin froh, daß dein Wagen ausnahmsweise anständig aussieht.«
Nach Bob Marrons Anruf duschte sich Meghan hastig, zog sich an und ging in die Küche. Ihre Mutter war schon dabei, das Frühstück vorzubereiten.
Catherines bemüht fröhliches »Guten Morgen, Meg«
erstarrte ihr auf den Lippen, als sie Meghans Gesicht sah.
»Ist was?« fragte sie. »Dann hab’ ich also doch das Telefon vorhin gehört, als ich in der Dusche war, oder?«
Meg nahm beide Hände ihrer Mutter in ihre eigenen.
»Mom, schau mich an. Ich bin jetzt absolut ehrlich zu dir.
Ich hab’ monatelang geglaubt, daß Dad damals auf der Brücke umgekommen ist. All das, was in dieser vergangenen Woche passiert ist, zwingt mich dazu, als Anwältin und Reporterin zu denken. Alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, jede einzelne sorgfältig abzuwägen.
Ich hab’ versucht, mir wirklich zu überlegen, ob er noch leben und in ernsthaften Schwierigkeiten sein könnte.
Aber ich weiß … ich bin mir sicher … daß das, was in diesen letzten paar Tagen vorgefallen ist, etwas war, was Dad uns niemals antun würde. Dieser Anruf, die Blumen
… und jetzt …« Sie verstummte.
»Und jetzt was, Meg?«
»Dads Auto ist in der Stadt gefunden worden, im Parkverbot vor meinem Apartmenthaus.«
»Heilige Mutter Gottes!« Catherines Gesicht wurde aschfahl.
»Mom, jemand anders hat es dahin gestellt. Ich weiß nicht, weshalb, aber es steckt irgendein Grund hinter all dem. Der Staatsanwalt will uns sehen. Er und seine Polizeibeamten werden versuchen uns einzureden, daß Dad lebt. Sie haben ihn nicht gekannt. Wir schon. Was immer sonst in seinem Leben schiefgelaufen sein mag, er würde nicht solche Blumen schicken oder sein Auto dort stehenlassen, wo man es ganz bestimmt findet. Er wüßte, wie uns das zusetzen würde. Bei dieser Besprechung lassen wir uns nicht beirren, sondern verteidigen ihn.«
Sie hatten beide keine Lust zu essen. Sie nahmen sich dampfende Tassen Kaffee mit zum Wagen hinaus.
Während Meghan rückwärts aus der Garage fuhr, sagte sie so sachlich wie möglich: »Es mag ja verboten sein, mit einer Hand zu fahren, aber Kaffee hilft wirklich.«
»Das kommt, weil uns beiden so kalt ist, innen wie außen. Schau mal, Meg. Der erste Pulverschnee liegt auf dem Rasen. Das wird noch ein langer Winter. Ich hab’ den Winter immer geliebt. Dein Vater hat ihn gehaßt. Das war einer der Gründe, weshalb ihm
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