Das Fremde Mädchen
achtzehn Jahren eine Frau aus Eurem Hause bestattet worden sein. Der Lahme wollte an ihrem Grab Nachtwache halten und beten.«
»Ein eigenartiger Irrtum«, erwiderte Adelais mit nachsichtigem Desinteresse. »Ihr habt sie doch sicher aufgeklärt?«
»Ich sagte ihnen, daß sie sich irrten. Natürlich war ich damals noch nicht hier, aber ich wußte von Vater Wulfnoth, daß die Gruft seit vielen Jahren nicht geöffnet worden war, und daß deshalb nicht zutreffen konnte, was der jüngere der Brüder vermutete. Ich erklärte ihm, daß alle Angehörigen Eures Hauses in Elford begraben liegen, wo ja auch der Hauptsitz Eurer Familie ist.«
»Das wäre eine lange, beschwerliche Fußreise für einen Lahmen«, sagte Adelais mitfühlend. »Hoffentlich hatte er nicht die Absicht, in diesem Zustand so weit zu reisen?«
»Ich fürchte doch, Mylady. Sie lehnten es ab, mit mir zu speisen und bei mir zu übernachten, und brachen sofort wieder auf. Er werde sie dort finden, meinte der Jüngere. Ja, ich bin sicher, daß sie sich auf der Hauptstraße nach Osten gewandt haben. Eine lange, beschwerliche Reise, aber er schien fest entschlossen, sie zu unternehmen.«
Sein Verhältnis zur Herrin war entspannt und freundschaftlich, und so konnte er ohne Hemmungen unumwunden fragen: »Wird er in Elford die Adelsfrau finden, die er sucht?«
»Durchaus möglich«, gab Adelais zurück, während sie gleichmäßig und unbeschwert neben ihm schritt. »Achtzehn Jahre, das ist eine lange Zeit, und ich kann nicht in seinen Kopf sehen. Ich war damals jünger, der Haushalt war größer. Es gab einige Cousinen, die keinen Anteil am Erbe bekamen. Mein Gatte wachte wie ein Vater über alle von seinem Blut. So wie ich es in seiner Abwesenheit als seine Regentin tat.«
Sie hatten das Tor des Kirchhofs erreicht und blieben stehen.
Es war ein sanfter, grüner und sehr stiller Morgen. Die Wolken hingen schwer und tief.
»Es wird noch einmal Schnee geben«, meinte der Priester, »wenn es nicht als Regen herunterkommt.« Das Thema wechselnd, fuhr er fort: »Achtzehn Jahre! Vielleicht fühlte sich der Mönch damals, als er bei Euch war, zu einer dieser jungen Cousinen hingezogen, wie es bei jungen Menschen eben geschieht, und ihr früher Tod bereitete ihm mehr Kummer, als er sich Euch gegenüber anmerken ließ.«
»So mag es ein«, sagte Adelais abwesend und zog die Kapuze ihres Mantels hoch, um sich vor den winzigen Eisspeeren, die aus der stillen Luft heruntertrieben und sie in die Wange stachen, zu schützen. »Guten Tag, Vater!«
»Ich werde darum beten«, rief der Priester ihr nach, »daß die Pilgerschaft zu ihrem Grab dem lebenden Mann und der toten Frau Trost und Ruhe schenkt.«
»Tut das, Vater«, gab Adelais zurück, ohne sich umzudrehen. »Und sprecht auch ein Gebet für mich und all die Frauen im Haus, daß wir es nicht zu schwer haben, wenn unsere Zeit kommt.«
Cadfael lag wach im Heuschober eines Waldbauern im königlichen Wald zu Chenet und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen seines Gefährten, die für einen Schlafenden zu gezwungen und zu gespannt klangen. Es war die zweite Nacht, seit sie Hales verlassen hatten. Die erste Nacht hatten sie etwa eine Meile hinter dem Dörfchen Weston auf dem einsamen Hof eines Kleinbauern und seiner Frau verbracht. Der folgende Tag war lang gewesen, und dieser zweite Unterschlupf am Rande des Waldes war ihnen mit seiner Wärme sehr willkommen. Sie waren schon früh in ihre Betten auf dem Heuboden gekrochen, denn Haluin, der darauf bestanden hatte, so lange wie möglich zu wandern, war völlig erschöpft. Der Schlaf, dachte Cadfael, kam friedlich und willig zu ihm und schenkte einer Seele, die im Wachen besorgt und gequält war, etwas Ruhe. Gott kennt viele Wege, unsere Bürden zu erleichtern. Haluin stand jeden Morgen erfrischt und entschlossen auf.
Es war noch nicht hell, die Dämmerung würde erst in einer Stunde kommen. Dort, wo Haluin lag, war keine Bewegung zu hören, kein Hälmchen raschelte im Heu, aber Cadfael wußte, daß Haluin wach war. Die Stille war ein gutes Zeichen, denn sie bedeutete, daß er schläfrig und entspannt ruhte, während sein Geist frei schweifen konnte.
»Cadfael?« sagte eine leise, vorsichtige Stimme in der Dunkelheit. »Seid Ihr wach?«
»Ja«, gab er ebenso leise zurück.
»Ihr habt mich nie gefragt. Nach dem, was ich tat, meine ich.
Und nach ihr...«
»Es ist nicht nötig«, erwiderte Cadfael. »Was Ihr mir sagen wollt, das sagt Ihr auch ohne meine
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