Das Fremde Mädchen
getan habe, wenn es notwendig war und kein besserer zur Stelle war –, dann habe ich mich wenigstens als Sünder wie alle anderen eingemischt, ich bin auf der gleichen Straße gewandert und war kein Statthalter des Himmels, der sich verbeugt, um aufzusteigen. Haluin ist nun mit dieser Verantwortung belastet, und es ist kein Wunder, daß er sich fürchtet.
Er blickte die lange Reihe der Gesichter an, zwischen denen Haluin kaum zu erkennen war, da sich die Profile gegenseitig überlagerten. Nur kurz waren sie zu sehen, wenn eine Bewegung durch die Tafel ging, nur hin und wieder wurden sie vom trügerischen Schein der Fackeln erfaßt. Cadfael sah Cenreds breites, offenes Gesicht, ein wenig angespannt unter der Belastung, aber immer noch freundlich, seine Frau, die der Tafel mit unerschütterlicher Liebenswürdigkeit und etwas ängstlichem Lächeln vorsaß, de Perronet in glücklicher Unschuld, breit strahlend, weil er Helisende an seiner Seite hatte und sie schon beinahe als die Seine betrachten konnte.
Das Mädchen selbst, bleich und still, entschlossen und anmutig neben ihm, bemühte sich nach Kräften, auf seine fröhliche Stimmung einzugehen, da er an ihrem Kummer keine Schuld trug und sie anerkennen mußte, daß er etwas Besseres verdiente. Wie er sie so beisammen sah, hatte Cadfael keinen Zweifel, daß er ihr verfallen war, und wenn sie nicht so strahlte wie er, dann nahm er dies vielleicht als ganz normalen Beginn aller Ehen und war willens und bereit, Geduld zu üben, bis die Knospe blühte.
Es war das erste Mal, daß Haluin das Mädchen sah, seit er in der Halle erschrocken aufgefahren und zusammengebrochen war, nachdem er vom stechenden Wind und dem blendenden Schnee ohnehin schon halb benommen gewesen war. Diese stille junge Frau, vom Fackelschein vergoldet, mochte eine Fremde sein, die er noch nie gesehen hatte. Er sah sie zweifelnd und verwirrt an, als ihr Profil einen Augenblick erkennbar war, gedrückt von der Verantwortung, die neu und schwer zu tragen war.
Es war schon spät, als die Frauen sich von der Tafel zurückzogen und die Männer, die allerdings auch nicht mehr lange in der Halle bleiben wollten, beim Wein sitzen ließen.
Haluin sah sich um und suchte Cadfaels Blick, und sie kamen wortlos überein, daß es auch für sie an der Zeit war, Gast und Gastgeber allein zu lassen. Haluin langte schon nach seinen Krücken und bereitete sich auf die Anstrengung des Aufstehens vor, als Emma mit besorgtem Gesicht und einer jungen Dienerin auf den Fersen aus der Kemenate geeilt kam.
»Cenred, etwas Seltsames ist geschehen! Edgytha ist ausgegangen und nicht zurückgekehrt, und jetzt beginnt es wieder zu schneien. Wohin soll sie so spät noch gegangen sein? Ich ließ nach ihr schicken, damit sie mir beim Zubettgehen aufwartete wie immer, aber sie ist nirgends zu finden, und nun sagt mir Madlyn hier, daß sie schon vor Stunden, als die Dämmerung kam, hinausgegangen sei.«
Cenred hatte Mühe, seine Gedanken von seinen Gastgeberpflichten zu lösen und sich um ein vermeintlich geringfügiges häusliches Problem zu kümmern, das eher Sache der Frauen als die seine war.
»Nun Edgytha kann doch hinausgehen, wenn sie es will«, meinte er freundlich. »Sie wird zurückkommen, wenn sie es für richtig hält. Sie ist eine freie Frau, sie weiß, was sie will; und wir können einmal darauf vertrauen, daß sie ihren Pflichten nachkommt. Wenn sie einmal nicht da ist, wenn sie gerufen wird, dann ist das doch nicht schlimm. Warum machst du dir dann Sorgen?«
»Aber sie hat es noch nie getan, ohne etwas zu sagen! Noch nie! Und jetzt schneit es wieder, und sie ist schon seit Stunden fort, wenn Madlyn hier die Wahrheit sagt. Wenn ihr nun etwas zugestoßen ist? So lange würde sie aus eigenem Willen bestimmt nicht ausbleiben. Und du weißt, wie ich sie schätze.
Ich will um keinen Preis, daß ihr etwas zustößt.«
»Das will ich auch nicht«, meinte Cenred warm, »das wünsche ich keinem meiner Leute. Wenn sie verschwunden ist, dann müssen wir sie suchen. Aber wir brauchen uns nicht zu sorgen, ehe wir nicht sicher wissen, daß ein Unglück geschehen ist. Mädchen, sprich, was weißt du über die Angelegenheit? Du sagst, sie sei schon vor Stunden ausgegangen?«
»Sir, das tat sie!« Madlyn kam bereitwillig herbei. Ihre großen Augen verrieten, daß sie die Aufregung als keineswegs unwillkommene Abwechslung empfand. »Es war, nachdem wir alles vorbereitet hatten. Ich kam gerade aus der Milchkammer und sah sie aus der
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