Das Fünfte Geheimnis
hatte Grund genug, mich schuldig zu fühlen. Du bist nur einfach in ein System geraten, das stärker ist als du. Nichts, dessen du dich schämen mußt.“
„Ich schäme mich aber.“
„Natürlich, das ist es, was Gewalt bei uns anrichtet. Aber Scham hilft dir jetzt nicht weiter. Sie hält dich vom Nachdenken ab. Hör lieber zu, was sie um dich herum besprechen. Hör zu! Sie sind kurz davor zu rebellieren. Du bist kurz vor dem Sieg, und du sprichst vom Sterben. Raus' aus dem Bett, tu etwas Sinnvolles.“
„Was ist mit Nullneun passiert?“
„Hexen haben ihn mitgenommen.“
„Was haben sie mit ihm gemacht?“
Bird setzte sich auf.
„Hey, Bird, erzähl' mal, was haben sie mit Nullneun gemacht?“
„Sie versuchen, ihn zu heilen“, hörte Bird sich sagen.
„Wie meinst du das?“
„Sie versuchen, seine Seele zu heilen. Damit er nicht wieder tötet.“
„Aber die Toten haben ihn doch verhext?“
„Richtig. Aber wenn er zu den Hexen geht, versuchen sie, ihm zu helfen und ihn zu heilen.“
„Aber er wird doch sterben, ohne die Booster?“
„Nicht unbedingt. Ich weiß von Flüchtlingen, die überlebt haben. Und die Hexen helfen ihm.“
„Warum eigentlich? Er hat eine ganze Familie getötet.“
„Trotzdem werden sie ihm helfen. Wir glauben nicht an Rache. Wir lassen die Toten selbst Rache nehmen.“
„Wenn die Hexen ihn heilen, was dann?“
„Dann wird er leben wie sie, frei und gleichberechtigt. Falls sie gegen die Stewards siegen. Ansonsten wird er mit ihnen sterben.“
„Was heißt, frei und gleichberechtigt?“
„Das heißt, niemand sagt dir, was du zu tun hast, was du zu denken hast, welche Kleidung du tragen sollst. Die Hautfarbe ist egal und deine Herkunft auch. Das heißt, daß jeder genug zu essen und zu trinken hat, das heißt, du kannst leben, wo du willst und wie du willst und du kannst die Arbeit tun, die dir gefällt.“
„Nullneun kann das alles haben?“
„Vermutlich.“
Was meinst du damit, daß die Hautfarbe keine Rolle spielt?“
„Schaut mich an“, sagte Bird, „ich bin dunkelhäutig wie ihr auch. Und ich war Mitglied in der Ratsversammlung. Ich war ein beliebter Musiker, damals. Ich war auf der Universität. Ich konnte alles tun, was ich tun wollte.“
„Bescheißt du uns auch nicht, Mann?“
„Wirklich nicht!“
„Das sollen wir glauben?“
„Es ist wahr.“
„Mann, dann sind wir hier, verdammt noch mal, in der falschen Armee“, sagte Drei-zwo. Böses Lachen kam von den anderen, aber es klang zustimmend, es klang nachdenklich.
✳✳✳
Am nächsten Morgen holten sie ihn aus der Baracke. Er wurde in einen dunklen Kellerraum gestoßen. Dann verging eine endlos lange Zeit. Bird hockte auf dem nackten, kalten Fußboden, zitternd vor Kälte, mühsam versuchte er, seiner Angst Herr zu werden. Nur schwer konnte er sich zu halbwegs ruhigen Atemzügen zwingen. Er hechelte wie ein Hund. Ruhig. Langsam einatmen, langsam ausatmen! Eins, zwei, drei...., vier...., fünf... Sein Herz klopfte heftig. Und sie haben noch gar nichts mit mir gemacht, dachte er, von Panik gepackt. Halt, halt, beschwichtigte er sich selbst. Nicht darüber nachdenken. Nur keine Angst vor der Angst haben, hätte Rio gesagt und Maya: Wo Angst ist, ist auch Stärke. Aber das ist falsch, abuelita. Wo die Macht ist, da ist Angst.
Was ihn am meisten erschreckte, war Rios Vermutung, der Sieg könnte nahe sein. Die Nachschublinien der Stewards waren zusammengebrochen. Jeden Tag desertierten einige Steward-Soldaten. Nicht viele, aber die anderen dachten darüber nach. Möglich, daß Lilys Strategie wirkte. Wenn das so war, war sein Widerstand wichtig. Die Situation verlangte aber nach Stärken, die er nicht mehr zu bieten hatte: Mut, Zähigkeit, Durchhaltevermögen, Unerschrockenheit. Diosa, er konnte nicht mehr. Wie sollte er durchhalten, wenn er wußte, daß sie es länger konnten als er? Es war ein Leichtes für sie, ihn zu quälen. Ihn kostete es alles, auch nur einen Augenblick zu widerstehen. Und wenn sie ihn mit Rosa erpreßten? Wie lange konnte er da standhalten?
Aber er würde es versuchen. Sogar, wenn sie ihn verleiten wollten, etwas Abscheuliches zu tun, es war doch eine Spur ehrenhafter, noch etwas länger zu widerstehen. Selbst wenn es nur eine gefährliche, verführerische Hoffnung war.
Doch als sie ihn endlich zum General brachten, wurde er nicht verhört, sondern bestraft.
„Du hast uns angelogen“, sagte der General mit bösem Unterton, „du hast uns hingehalten. Das
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