Das Fünfte Geheimnis
fühle mich gut heute. Es ist gut, hier zu sein. Bei dir zu sein.«
Sie blancierte das Tablett, um den Tee nicht zu verschütten und setzte sich mit einer graziösen Bewegung zu ihm. Er nahm seine Tasse zwischen beide Hände.
»Danke«, sagte er.
Sie sah ihn lange und fragend an, als wollte sie erforschen, was er wirklich fühlte. Er hielt ihrem Blick stand.
»Du bist ein ungewöhnlicher Mann«, sagte sie schließlich, »auch am Morgen bist du noch wie ich.«
»Ich mag dich«, sagte Bird, »du bist sehr kraftvoll und sehr schön.«
»Nun lügst du.«
»Es würde mir nicht in den Sinn kommen, dich mit Lügen zu beleidigen. Du würdest mich sofort durchschauen. Ich war so hungrig. Und ich wollte dich vom ersten Moment an, da ich dich sah.«
»Vom
ersten
Moment an?«
»Na gut, vielleicht nicht vom allerersten Moment«, gab Bird zu. Er wartete, dann lächelte er. »Aber nachdem du die Knarre runtergenommen hattest.«
Sie blickte verwirrt.
»Das ist ein Scherz«, sagte Bird.
»Oh.«
»Mach dir nichts draus.«
»Bleibst du hier? Willst du unser Lehrer sein?«
»Das kann ich nicht, Rhea. Ich muß heimgehen. Ich muß meine Familie finden – wenn sie noch am Leben sind. Ich bin mehr als zehn Jahre von ihnen fortgewesen.«
»Aber du wirst ein Weilchen bleiben? Bis du wieder bei Kräften bist?«
»Sicher.«
»Wir brauchen aber einen Lehrer. Wir brauchen einen Heiler. Du könntest uns helfen.«
»Ich würde euch gern helfen. Ich will tun, was ich kann. Aber ich muß einfach heimgehen. Du kannst das doch verstehen, oder?«
»Ich verstehe. Aber ich werde einen Zauber auf dich legen – damit du wiederkommst. Oder schick' uns jemanden, der uns unterrichten kann.«
Sie legte ihre Hände auf seine Schultern. Er fühlte, wie sich eine Last auf ihn legte. Ich will das nicht, wollte er rufen, aber er schwieg still und öffnete sich und nahm den Zauber an. Eine Last zu tragen, bedeutete, am Leben zu sein.
»Ich nehme an«, sagte er, »wenn ich es nach Hause schaffe, werde ich zurückkehren. Oder es wird jemand anderes kommen.«
»Wir müssen zusammenarbeiten«, sagte Rhea. »Wir alle, Norden, Süden und Mitte. Wir werden zusammenarbeiten und überleben.«
Bird blieb, schwelgte in Ruhe und Essen und einer Art von Zuflucht. Die Ernährung war einfach, aber es erschien ihm wundervoll zu essen, wenn er hungrig war, richtiges Gemüse zu kauen und richtiges Brot, statt des schleimigen Breis im Gefängnis. Er und Littlejohn verbrachten ganze Tage am Strand, im Schatten eines großen Sonnensegels, das die sengende Sonne von ihnen abhielt, ohne die heilende Wärme abzuhalten. Man hatte sie gewarnt, nicht ins Wasser zu gehen; Menschen, die hineingingen, kamen mit seltsamen Hautveränderungen heraus und manche verloren ihr Haar. Aber sie konnten die Wellen beobachten und das Licht, das über ihre Oberfläche tanzte und sich von den rhythmischen Geräuschen der Wellen einlullen lassen. Bird war müde, viel müder als er sich selbst eingestehen wollte. Sein Verstand trieb ihn heimwärts, aber sein Körper wühlte sich in den warmen Sand und verweigerte jede Bewegung. Nach dem ersten Morgen gab er es auf, dagegen anzukämpfen.
Littlejohn war bei Morton eingezogen. Bird blieb in Rheas Hütte. An den langen Nachmittagen lagen er und Littlejohn beieinander. Die Stille war mit Spannung erfüllt.
Am dritten Tag fühlte Bird seine Kräfte zurückkehren. Er setzte sich auf, als die Sonne das Wasser berührte und ihm flüssiges Gold zu Füßen legte. Er wünschte, er könnte auf dieser Spur nach Hause gehen. Bald würde es soweit sein.
»Noch einen oder zwei Tage, denke ich, dann bin ich soweit, um aufzubrechen«, sagte er zu Littlejohn. »Wie ist es mit dir?«
Littlejohn schüttelte den Kopf. »Ich geh' nicht mit. Ich bleib' hier.«
»Warum?« fragte Bird, obgleich er sich eigentlich nicht wunderte.
»Du hast mir nie deinen Namen gesagt.«
Darauf hatte Bird keine Antwort. Er konnte nicht einmal ernsthaft behaupten, es täte ihm leid. »Littlejohn, egal, was sie sagen, es kann nicht gesund sein, hier zu leben. Ich sag' dir noch einmal, du wärest willkommen bei mir zu Hause.«
»Hier bin ich willkommen. Und ich bin hier.«
»Ich kann nicht widersprechen.«
»Ist schon in Ordnung, Bird. Du schuldest mir nichts.«
»Mein Leben.«
Littlejohn schüttelte den Kopf. »Ich schulde dir meins fünfmal mehr. Sag, wir sind quitt, okay?«
»Ich werde dich vermissen«, sagte Bird.
»Du weißt, wo ich bin. Vielleicht kommst du ja
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