Das fuenfte Imperium
wie attraktiv. Bist du erst über die sechzig, und diverse Zipperlein stellen sich ein, rückt das alles in den Hintergrund im Vergleich zu Stuhlgang und steifen Gelenken ...«
»Sie wollen damit sagen, dass die Wahrheit in uns selbst beschlossen liegt, ja?«
»So ist es. Die Menschen sind geneigt, diesem Wort einen sonstwie höheren Sinn beizumessen. Das muss nicht sein. Wahrheit ist nicht metaphysischer, sondern chemischer Natur. Solange genügend Lebenskraft in dir ist, findet sich immer ein angemessener verbaler Ausdruck dafür. Immer lässt sich ein Abrakadabra ausdenken, das in den Neuronenketten deines Hirns eine Erregung hervorruft, welche sich wie der geheiligte Odem der Wahrheit anfühlt. Was für Wörter das letztendlich sind, spielt keine große Rolle, denn alle Wörter sind sich gleich: alles Spiegel, in denen sich der Geist reflektiert. «
Ich wurde langsam gereizt.
»Sie widersprechen sich selbst«, stellte ich fest.
»Inwiefern?«
»Sie sind doch kein einfacher Vampir, Sie sind Tolstoianer.
Wenn die Wahrheit nur eine chemische Reaktion ist, wozu haben Sie dann den Weg des Geistes gewählt? Warum kultivieren Sie das einfache Leben?«
»Warum, darum«, sagte Osiris und blickte auf die Uhr. »Wenn du weg bist, rufe ich meine Gastarbeiter, kultiviere zweimal hundert einfache Gramm Wodka, und dann wird alles wieder wahr. Die Risse in den Wänden, der Staub auf dem Fußboden, selbst das Kollern in den Gedärmen ... Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist alles Lüge.«
»Aber wenn sich alles auf Chemie und Bablos reduziert, wozu dann überhaupt die Begriffe: Gott, Wahrheit, Universum? Woher kommt das?«
»Geist B hat zwei Arbeitstakte. Einen Nutztakt und einen Leertakt. Während des Arbeitstaktes erzeugt der Mensch das Aggregat M5. Der Leertakt ist die Phase, in der kein Bablos produziert wird. Der Rückhub des Kolbens. Aber Geist B schaltet währenddessen nicht ab, er sucht sich Beschäftigung mit irgendeiner sinnlosen Abstraktion: Was ist Wahrheit? Gibt es einen Gott? Wie ist die Welt entstanden? -irgend so was. Dieser ganze Tinnef, dessentwegen du hier auftauchst. Zwischen den parallelen Spiegeln werden diese Fragen ins Unendliche projiziert, bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und phasenverschoben, dann tauchen sie irgendwann als Antwort auf sich selbst wieder ins Bewusstsein. Eine Welle der Erregung durchzuckt die Neuronenketten, und der Mensch meint, er hätte den Stein der Weisen gefunden. Denn alle menschlichen Wahrheiten haben das Format einer Gleichung, bei der ein Begriff mit einem anderen kurzgeschlossen wird: Gott ist Geist. Der Tod ist unausweichlich. Zweimal zwei ist vier. E gleich mc 2 . Das schadet niemandem. Nur wenn es gar zu viele solcher Gleichungen gibt, sinkt der Ausstoß von Bablos. Deshalb können wir die Kultur der Menschen nicht dem Selbstlauf überlassen. Wenn es sein muss, zwingen wir sie mit eiserner Hand zurück in die alten Geleise.«
»Wie geschieht das?«
»Du bist doch in Glamour und Diskurs ausgebildet. Das sind unsere Methoden. Wenn dich Details interessieren, musst du dich an die Chaldäer wenden. Allgemein läuft es darauf hinaus, dass die Leertakte in Geist B möglichst kurz gehalten werden. Wenn alles gut läuft, wird kein Mensch nach Gott suchen. Denn der wartet schon auf ihn am Kircheneingang, gleich neben der Kollekte. Genauso wenig wird er die Kunst nach ihrem Sinn befragen. Er weiß, dass der einzige Sinn darin liegt, Steuern zu sparen. Und so weiter. Der Kampf um die Erhöhung von cos(π) ist eine nationale Aufgabe, wie es in dem Pennälerwitz heißt.«
»Hat das Leben dann überhaupt einen Sinn?«, fragte ich. »Oder ist es sinnlos bis dorthinaus?«
»Nein, wieso. Man kann allerlei Sinn darin sehen. Für jeden Geschmack etwas. Man kann es leben, als wäre es aus einem Guss, beseelt und bedeutungsvoll. Aber wenn die letzte Seite dieses Lebens umgeschlagen ist, wird aller Sinn wie ein trockener Strohhalm vom Winde verweht.«
»Und wozu dann das alles?«
Osiris beugte sich nach vorn, nahm einen Gegenstand vom Tisch und hielt ihn mir vor das Gesicht.
»Was ist das?«, fragte er.
Ich schaute auf seine Finger. Dazwischen steckte ein Nagel: alt und an der Kuppe etwas rostig, wahrscheinlich schon mal irgendwo eingeschlagen gewesen, wieder herausgezogen worden.
»Das? Ist ein Nagel«, antwortete ich brav.
»Richtig. Ein Nagel. Ein alter Nagel. Wir können den simpelsten Gegenstand hernehmen - einen alten, rostigen Nagel. Ihn betrachten. Und uns fragen: Was
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